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Der Bann (German Edition)

Der Bann (German Edition)

Titel: Der Bann (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen L. Jones
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darunter hervor. Ihr rechtes Auge starrte ihn an, ein hellroter Apfel. Er wollte sie nicht zu lange ansehen. Wollte nicht dieses Bild von ihr als letzte Erinnerung behalten. Ihr Morgenmantel stand offen. Blut war aus ihrer Nase gelaufen. Es war über ihre Brüste geflossen und auf die Rundung ihres Bauches gespritzt.
    Charles begriff das alles nicht. Er hatte gedacht, dass Jakab sie wollte. Hatte die ganze Zeit über gedacht, dass das der Grund für alles wäre.
    «Dad?»
    «Hannah!»
    «Dad, was ist passiert? Alles in Ordnung?»
    «Nein, überhaupt nicht.» Charles stockte, drehte seiner Frau den Rücken zu. Es war schwierig, sich zu konzentrieren, wenn sie ihn so anstarrte. «Ich fürchte, du musst die Schule verlassen, jetzt sofort. Sobald unser Gespräch zu Ende ist, wirst du auflegen und einfach gehen. Hast du verstanden? Sprich mit niemandem.»
    Eine Pause am anderen Ende der Leitung. Dann: «Ist … ist er gekommen?»
    «Ja, Hannah. Er ist hier.»
    «Ist Mami bei dir?»
    «Hannah, hör mir zu. Findest du allein den Weg zur St. Mary’s Church?»
    «Sicher.»
    «Gut. Lauf dorthin. Warte dort auf mich. Ich bin in einer Stunde da.» Er zögerte. «Gibt es irgendetwas, das ich mitbringen soll? Aus dem Haus?»
    «Nein, Dad. Nur euch beide, Mami und dich.»

Kapitel 18
    Budapest
    Heute
    M it geschlossenen Augen konnte man das anschwellende Geräusch unter ihm für das Brummen einer großen menschlichen Maschine halten. Flüstern, Husten, ersticktes Lachen. Das Knarzen von Stuhllehnen. Das Rascheln von Papier.
    Dann setzte das Orchester ein. Eine einzelne Oboe zuerst, langgezogen und schwermütig. Die Vibrationen von Pferdehaar auf Saiten, als die Violinen einstimmten. Bratsche, Cello und Kontrabass fügten ihre Klänge hinzu. Ein Crescendo von Trompeten, Posaune und Horn. Irgendwo mittendrin ein gehauchtes Flöten-Arpeggio.
    Lorant Vince öffnete die Augen und atmete die goldene Pracht der Budapester Staatsoper, während das Orchester die Instrumente stimmte. Er saß allein in der königlichen Loge, auf einem hohen Stuhl, gepolstert mit braunem Samt. Über ihm erstrahlten die berühmten Deckenfresken von Károly Lotz im Licht des riesigen Kronleuchters, aufsehenerregende Darstellungen vom Olymp und den griechischen Göttern. Drei übereinanderliegende, mit Blattgold überzogene Ränge aus privaten Logen schmiegten sich in Hufeisenform um den Zuschauerraum unten und die Bühne. Nach dem Königlichen Palast war die Staatsoper Lorants Lieblingsgebäude in Budapest.
    Während das Orchester weiter seine Instrumente einstimmte, öffnete sich die Tür hinter Lorant, und er hörte jemanden eintreten. «Sie kommen spät», flüsterte er, ohne sich umzudrehen.
    Der Stuhl neben ihm scharrte über den Boden. Lorant blickte auf. Er hatte erwartet, Károly Gera zu sehen, doch während Lorant dem
Signeur
dieser Tage wenig Liebe entgegenbrachte, wirkte der Mann, der an seiner statt gekommen war, noch viel beunruhigender auf ihn.
    Benjámin Vass sah hinunter auf das Orchester, auf das Publikum im Parkett und die vergoldete Pracht des Auditoriums. Dann erst drehte er sich zu Lorant um. Vass’ Gesicht war fleischig und sanft, bar jeglichen Ausdrucks, die Augen verschleiert von schweren Lidern. Sein Atem roch nach gewürztem Fleisch, als hätte er eben einen Teller voll
gyulai kolbász
gegessen.
    «Károly lässt sich entschuldigen,
Presidente
. Er hat mich gebeten, ihn zu vertreten.»
    «Károly bittet um ein Treffen mit mir und schickt dann seine rechte Hand?»
    «Seine Krankheit hat sich verschlimmert. Ich handle in seinem Interesse.»
    Lorant spürte, wie seine Kiefermuskeln hart wurden. Niemand handelte im Interesse der drei
ülnökök
. Kein
ülnök
der Eleni handelte in seinem eigenen Interesse. Ein
ülnök
handelte einzig und allein im Interesse des Eleni-Konzils. «Das tut mir leid zu hören», sagte er.
    Es war die Wahrheit. Károly war ein alter Mann, beinahe so alt wie Lorant, und er starb an einer Krankheit, gegen die er im vergangenen halben Jahr angekämpft hatte. Lorant würde seinen Tod nicht betrauern, wenn er kam – er würde um den Mann trauern, der Károly einst gewesen war. Was Lorant wirklich sorgte, war die konkrete Gefahr, dass Vass nach Károlys Tod zum
Signeur
gewählt wurde. Als
Presidente
konnte Lorant zwar sein Veto einlegen, doch wenn die restlichen
ülnökök
für Vass stimmten, würde seine eigene Position unhaltbar werden.
    Will ich diese Bürde überhaupt noch länger? Wahrscheinlich nicht. Ich

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