Der Bann (German Edition)
einen endlosen Korridor, dessen Wände vollhingen mit lebensgroßen Gemälden ungarischer Herrscher. Die meisten der Monarchen waren Lukács unbekannt, doch er entdeckte mehrere Bilder, auf denen Franz Joseph zu sehen war.
Am Ende des Korridors wartete eine hohe vergoldete Doppeltür. Musik und das Geräusch angeregter Unterhaltungen drang aus dem Saal dahinter. Die Diener traten zu den Türen und öffneten sie für Lukács, und er hob eine Hand zu der Zinnmaske vor dem Gesicht. Das Metall fühlte sich kalt an. Er atmete tief durch, dann betrat er den Ballsaal. Die Pracht, die ihn erwartete, war überwältigend.
Drei gewaltige Kronleuchter dominierten den zwanzig Meter hohen Raum, und in jedem brannten zahllose Kerzen. Der weiß-goldene Gipsputz der Decke war so kunstvoll und fein, dass er Lukács den Atem raubte. Entlang der Ostseite des Saals beherbergten riesige Alkoven zwölf Meter hohe Fenster, durch die man auf die mächtige Donau und Pest auf der anderen Seite des Flusses sehen konnte. Fresken zierten die Wand gegenüber den Fenstern, und darunter stand eine lange Reihe vergoldeter Stühle mit Sitzflächen und Lehnen aus rotem Samt.
Ein Streicherensemble spielte auf einer Bühne am anderen Ende des Raums. Überall im Saal standen Gruppen junger Männer zusammen, insgesamt sicher mehr als hundert. Sie trugen die gleichen förmlichen Gewänder wie Lukács, und ihre wahren Gesichter verbargen sich hinter den gleichen kunstvoll gearbeiteten Zinnmasken. Sie tranken aus dünnstieligen Champagnerflöten und rauchten lange Zigarren, während sie sich laut unterhielten.
Schon die jungen
hosszú életek
waren ein beeindruckender Anblick, doch sie verblassten geradezu neben den Frauen. Lukács fühlte sich verzaubert wie von der Farbenpracht tropischer Vögel. Ihre Kleider waren ein Kaleidoskop aus Stoffen und Mustern. Bustiers waren
de rigueur
, ein absolutes Muss, genau wie tief ausgeschnittene Dekolletés und schulterfreie Trägerkleider, die Lukács’ Vater entsetzt hätten. Die Frisuren waren gleichermaßen von einer erstaunlichen Uniformität: hoch aufgetürmt und zu einem kunstvollen Knoten gebunden oder einem Lockenbündel. Anstatt Masken trugen die Frauen Spitzenschleier, die ihre Gesichter unmittelbar unter den Augen bedeckten. Genau wie ihre männlichen Gegenüber standen sie in kleinen Gruppen beisammen und schwatzten. Lukács sah, wie sich mehrere in der am nächsten stehenden Gruppe aus der Unterhaltung lösten, um ihn zu mustern, und er verspürte ein angenehmes Kribbeln auf der Haut, als ihre Augen über ihn glitten.
Er hielt einen Kellner mit einem Tablett voller Champagner an und nahm sich ein Glas, bevor er sich der am nächsten stehenden Gruppe junger Männer zuwandte und in ihre Mitte trat. Augenblicklich wurde der Kreis größer, um ihn aufzunehmen. Einer nach dem anderen traten sie vor, um seine Hand zu schütteln. Niemand stellte sich mit Namen vor, doch darauf hatte man ihn vorbereitet, und er erwartete nichts anderes.
Während einer nach dem anderen mit ihm redete, beobachtete er die Augen hinter den Masken. Er war an die Streifen aus Grün und Indigo in den Augen seines Vaters gewöhnt, doch nun erblickte er eine Vielzahl von Variationen: silberne Flecken, purpurne Wirbel, Tigerstreifen aus lebendigem Orange. Grimmig bemerkte er ihre Konfusion, als sie ihrerseits ihn studierten. Fragten sie sich möglicherweise, ob in ihrer Mitte ein Hochstapler und Betrüger lauerte? Oder einfach nur ein Schwächling? Die Fesseln des Protokolls verhinderten, dass ihn jemand herausforderte, doch er sah, wie einige von ihnen fragende Blicke wechselten.
Mit dem Champagner plätscherten auch die Unterhaltungen dahin, von den Errungenschaften des Königs hin zu den jüngsten Nachrichten bezüglich der Vereinigung von Buda und Pest zu einer großen Metropole. Lukács hatte zunächst Mühe, etwas beizutragen, doch als die Gläser nachgefüllt wurden und alle sich entspannten, kehrten die Gespräche zu der abendlichen Veranstaltung zurück, genauer gesagt, zur anderen Hälfte der versammelten Gäste. Lukács bemerkte, dass sich einige aus seiner Gruppe bereits in Richtung der jungen Frauen entfernten, um Konversationen zu beginnen. Nicht lange, und er stand allein in einem der Alkoven mit den riesigen Fenstern. Er wandte dem Eingang den Rücken zu und sah hinunter auf die Donau. Draußen war es dunkel geworden. Der gewaltige Fluss war ein breiter Streifen aus Schwarz, auf dem die reflektierten Lichter der
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