Der Bann (German Edition)
Stadt Pest glitzerten. Jenseits der Stadt, irgendwo weit hinten, lag Gödöllő, sein Heimatort. Er fragte sich, was Jani und Izsák wohl machten. Ob sie an ihn dachten.
«Wunderschön, nicht wahr?»
Erschrocken fuhr er herum. Direkt vor ihm stand ein Mädchen, fast genauso groß wie er, und studierte ihn mit kritischem Blick. Er bemerkte ein süffisantes Grinsen unter dem halb transparenten Spitzenschleier und wich instinktiv in den Alkoven zurück, weg vom Licht der Kronleuchter.
«Ah, schüchtern sind wir also auch.» Das Grinsen wurde breiter. «Keine Angst, ich beiße nicht. Ich hab dich reinkommen sehen. Ich dachte eigentlich, du wärst inzwischen mal vorbeigekommen und hättest dich vorgestellt, aber stattdessen stehst du den ganzen Abend mit dieser langweiligen Gruppe von Jungs herum. Und jetzt bist du allein. Du hast mit keiner von uns gesprochen.»
«Mir war nicht bewusst, dass ich beobachtet werde.» Er verzog das Gesicht wegen der tollpatschigen Bemerkung. «Aber du hast recht», fügte er hastig hinzu. «Die Aussicht ist wunderschön.»
Sie sah aus dem Fenster, und Lukács nutzte die Gelegenheit, sie eingehend zu mustern. Man konnte sie nicht als hübsch im eigentlichen Sinn bezeichnen – oder auch nur charmant –, doch ihre schnodderige Zuversicht und ihre offensichtliche Reife hatten sein Interesse geweckt.
«Bist du zum ersten Mal hier?», fragte sie.
«Ja. Und du?»
«Gütiger Himmel, nein. Mein Vater ist ein Botschafter.» Sie lachte auf. «Darf ich das erzählen? Nein, darf ich wahrscheinlich nicht. Bestimmt sogar. Aber jetzt habe ich es trotzdem getan, und es ist nicht mehr zu ändern. All diese Heimlichtuerei … nichts als Theater, meinst du nicht? Schließlich sind wir alle
hosszú életek
. Ich war schon viele Male mit meinem Vater hier. Offizielle Verpflichtungen. Unglaublich langweilig, glaub mir. Ganz und gar nicht wie das hier.» Sie berührte seinen Arm. «Los, komm ins Licht. Ich kann dich kaum sehen, so, wie du im Schatten stehst.»
Er spürte, wie sein Herz stockte. Das war es. Eine erste Annäherung. Der Moment, auf den sein Vater ihn vorbereitet hatte. Wegen dem sein älterer Bruder ihn verspottet hatte, seit so langer Zeit. Er kannte die Etikette, wusste, dass sie ihm schmeichelte, dass sie sich außerhalb des
végzet
zweifellos in sehr viel höheren gesellschaftlichen Kreisen bewegte. Doch genau das war der Sinn des
végzet
, oder vielleicht nicht? Eine nivellierende Umgebung, die es allen
hosszú életek
gestattete, sich untereinander zu mischen. Eine Tradition, die sich Jahrhunderte zurück erstreckte. Er fand sie nicht sonderlich attraktiv, doch das war nicht der entscheidende Punkt. Diese Nacht diente lediglich einem ersten Kennenlernen. Die komplizierten sexuellen Gefechte würden erst beim nächsten Zusammentreffen ihren Lauf nehmen.
«Magst du den Ausblick nicht noch eine Weile genießen?», fragte er zurück.
«Ach, Unsinn! Die Donau ist morgen auch noch da. Sie ist in tausend Jahren noch da!» Sie hob herausfordernd ihr spitzes Kinn. «Los, komm mit mir nach draußen.»
Er senkte den Kopf, und sein Herzschlag beschleunigte sich, als er ihr aus dem Alkoven und ins Licht folgte. Sie bewegten sich an der Wand entlang. Sie hielt unter einem kunstvoll verzierten goldenen Kerzenleuchter inne und drehte sich zu ihm um, schob einen Finger unter sein Kinn und bog seinen Kopf nach oben, sodass er sie ansehen musste.
Lukács wagte nicht zu atmen, als er in ihre Augen sah. Um das Schwarz der Pupillen herum war ihre Iris von einem verblüffenden Kornblumenblau, in das sich nach und nach weitere Farben mischten. Wirbel aus Magenta, gerade Linien aus Gold. Er spürte, wie das Blut durch seine Arterien zu rauschen begann. Seine Brust schwoll vor Erregung.
Doch noch während er sie in sich aufnahm, verblasste der Anblick. Noch immer wie gebannt von dem, was er gesehen hatte, bemerkte er nicht die plötzliche Verachtung in ihrem Gesicht, bis sie fragte: «Was stimmt nicht mit dir? Deine Augen …
sie sind wie tot
!»
Er spürte, wie er rot anlief. «Es ist … es ist ein Geburtsfehler. Der Rest von mir –»
«Du bist kein
hosszú élet
!»
«Aber ja doch! Selbstverständlich bin ich einer. Es ist nur, dass meine Augen … meine Augen haben sich nicht normal entwickelt. Niemand weiß, warum. Aber der Rest …» Er stockte.
«Es gab ein Gerücht, wir hätten eine Missgeburt in unserer Mitte», fauchte sie. «Ich hätte nicht im Traum gedacht, dass ausgerechnet ich so
Weitere Kostenlose Bücher