Der Bedrohung so nah (German Edition)
ihren Revolver in das Halfter steckte und versuchte, nicht darüber nachzudenken, ob sie je wieder den Mut haben würde, ihn zu benutzen.
Entschieden schob Erin die Selbstzweifel beiseite. Es gab jetzt ohnehin kein Zurück mehr.
Sie strich ihr Hemd glatt, nahm ihre Ersatzuniform und ging zu Tür. Ihr Herz klopfte. „Du schaffst das“, murmelte sie, fest entschlossen, sich nicht von ihrer Unsicherheit einschüchtern zu lassen.
Eine Kinderstimme drang aus dem Vorraum zu ihr. Neugierig schritt sie den Flur entlang, blieb jedoch stehen und trat nicht ein. Ein kleines Mädchen mit weizenblonden Haaren saß an Hectors Schreibtisch und war gerade dabei, ein Malbuch aus dem Rucksack zu holen. Sie sah nicht viel älter aus als acht oder neun Jahre, doch ihre Augen wirkten so erwachsen, wie Erin es bei einem Kind noch nie gesehen hatte.
Nick kam aus seinem Büro und ging zu dem Mädchen. „Warum bist du nicht in der Schule, Honey?“, fragte er.
Das Mädchen zuckte mit den Schultern. „Ich möchte gerne bei dir mitfahren.“
„Heute ist ein Schultag.“
„Ich will aber nicht zur Schule.“
Er beugte sich über sie und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Dann richtete er sich wieder auf und sah sie ernsthaft amüsiert an. „Ich dachte, dieses Jahr gehst du gerne in die Schule. Ist heute nicht Bücherei-Tag?“
„Mrs McClellan mag mich nicht.“
„Sie mag dich nicht? Was gibt es denn an dir nicht zu mögen?“ Er wuschelte durch ihr Haar und ließ seine Hand kurz auf ihrem Kopf liegen. „Es muss unter uns bleiben, aber Mrs McClellan hat mir verraten, dass du ihre Lieblingsbibliothekarin bist.“
Das Mädchen sah auf sein geöffnetes Malbuch, das auf dem Schreibtisch lag. „Kann ich nicht einfach ein bisschen hierbleiben? Ich habe mir extra was zu malen mitgebracht. Guck, hier. Ich bin auch ganz ruhig.“
„Honey, ich würde liebend gerne den Tag mit dir verbringen, aber du darfst nicht noch mehr vom Unterricht verpassen, und ich muss arbeiten.“ Er kramte in ihrem Rucksack und holte eine Schachtel Buntstifte hervor. „Wer hat dich auf die Wache gebracht?“
Das Mädchen lehnte sich nach vorn und warf Erin über Nicks Schulter hinweg einen unfreundlichen Blick zu. „Wer ist die Frau?“
Nick sah zu Erin, dann zurück zu dem Mädchen. „Sie heißt Erin. Sie ist mein neuer Deputy …“
„Aber das ist ein Jungenname.“
„Steph, bitte sag mir, wer dich hierhergebracht hat.“
„Niemand.“ Sie wählte einen Buntstift aus und begann zu malen. „Ich bin einfach gegangen. Mr Finn hat mich zum Büro des Direktors geschickt, weil ich mit Kimmy Bunger geredet habe. Als die Aufsicht auf Toilette war und keiner aufgepasst hat, bin ich einfach gegangen.“
Erin sah, wie sich Nicks Schultern anspannten. „Moment mal“, sagte er bestimmt. „Du bist einfach gegangen? Es hat dich kein Erwachsener hierhergefahren?“
„Das ist doch nicht schlimm, Daddy. Die Schule ist nur zwei Blocks entfernt.“
„Ich fürchte, die Schule ohne Erlaubnis zu verlassen ist schlimm, Steph. Du weißt, dass ich wieder den Direktor anrufen muss, oder?“
Sanft nahm er ihr den Buntstift aus der Hand, dann stellte er sich hinter sie und zog ihren Stuhl zurück.
Und zum ersten Mal bemerkte Erin den Rollstuhl. Verzweifelt bemüht, ihren Schock unter Kontrolle zu kriegen, starrte sie das Mädchen an.
„Du weißt genau, dass du die Schule nicht ohne Erlaubnis verlassen darfst“, sagte Nick, während der das Telefon nahm und wählte. „Warum hast du deinem Lehrer nicht gesagt, dass du nach Hause möchtest? Warum hast du mich nicht angerufen?“
Wie erstarrt stand Erin da. Nur am Rande bekam sie mit, wie Nick am Telefon nach dem Direktor verlangte, während sie krampfhaft versuchte, sich einzureden, dass der Anblick des Rollstuhls ihr nichts ausmachte. Dass er keine Erinnerungen in ihr ausgelöst hatte.
Trotzdem zogen die Bilder aus der Nacht der Schießerei vor ihrem inneren Auge herauf. Danny, wie er in einer Pfütze aus Blut am Boden lag. Sie konnte das Schießpulver förmlich riechen.
Verzweifelt versuchte sie, sich zu konzentrieren und gegen den Flashback anzukämpfen, doch er war zu stark. Eine erdrückende Angst stieg in ihr auf.
Die gefaltete Uniform, an der sie sich festgeklammert hatte, rutschte ihr aus den Händen und fiel zu Boden. Nick sah auf, und seine Augen verengten sich. Erschrocken und besorgt, er könne ihre Reaktion falsch verstehen, hob sie die Uniform auf und zog sich in den vermeintlich sicheren Flur
Weitere Kostenlose Bücher