Der Berg der Sehnsucht: Big Sky Mountain (German Edition)
kleine Splitter ragten. Sein Magen rebellierte, seine Kehle war wie zugeschnürt.
„Nein, ich werde deinem Dad nichts sagen“, antwortete er und kletterte weiter rauf. „Das wirst du machen!“
„Dann wird er mich umbringen!“, rief sie erschrocken.
Immer noch besser als vom Wasserturm in die Tiefe zu stürzen, dachte Hutch, sagte aber: „An deiner Stelle würde ich mir darüber jetzt keine Gedanken machen.“
Er war fast oben angekommen und verspürte tatsächlich so etwas wie ein leichtes Triumphgefühl, aber noch immer konnte er nur Shea ansehen.
„Und jetzt?“, fragte sie.
Eine berechtigte Frage, wie er selbst sagen musste. „Jetzt komm zu mir auf die Leiter“, sagte er schließlich. „Ich bin bei dir.“ Als ob er sie auffangen könnte, wenn sie plötzlich den Halt verlor!
Ihm kam ins Gedächtnis, was Slade damals zu ihm gesagt hatte, als er vor Angst nicht mehr in der Lage gewesen war, nach unten zu klettern. „Du schaffst das“, redete er auf sie ein wie Slade auf ihn. „Immer schön ein Schritt nach dem anderen, und ehe du dich versiehst, sind wir beide auch schon runter von dem Ding.“
Shea zögerte, aber dann stieg sie über das Geländer, zunächst nur mit einem Bein, bis sie auf der Sprosse Halt gefunden hatte.
„Ganz langsam und vorsichtig“, ermahnte Hutch sie, und dann stand sie auf der Leiter, auch wenn es für einen Moment so aussah, als könne sie sich nun schon wieder nicht mehr von der Stelle rühren.
„Ich hab so Angst“, wimmerte sie.
„Ist schon okay“, versicherte er ihr. „Mach nur einfach den nächsten Schritt. Komm schon, Shea.“
Er stieg ein paar Sprossen nach unten, damit sie Platz hatte. Eine der Sprossen brach in der Mitte durch, als er darauf trat, und beinahe wäre er abgestürzt. Holzsplitter bohrten sich in seine Haut, als er die Leiter fester umklammert hielt.
„Du musst jede Sprosse erst testen, ob sie stabil ist, bevor du dich richtig draufstellst“, wies er sie mit ruhiger Stimme an, obwohl er innerlich am liebsten in Panik ausgebrochen wäre. Zögerlich machte sie den nächsten Schritt.
Schweißperlen liefen Hutch in die Augen und nahmen ihm kurzzeitig die Sicht. „Gut so“, redete er weiter. „Das machst du sehr gut.“
Der Weg nach unten schien unendlich lang, und unter Hutchs und Sheas Füßen brachen noch ein paar Sprossen mehr ab, aber dann hatten sie es endlich geschafft. Hutch stand leicht schwankend da und hätte am liebsten den Boden unter sich geküsst.
Shea schlang die Arme um ihn. „Was hätte ich nur ohne dich gemacht?“, flüsterte sie.
Er drückte sie kurz an sich, dann wich er weit genug zurück, um sie an den Schultern zu fassen und in ihr totenbleiches und tränenüberströmtes Gesicht zu schauen. „Früher oder später wärst du auch allein wieder runtergekommen“, versicherte er, wusste aber nicht, ob er das selbst glaubte. „Ist alles in Ordnung?“
Sie nickte und schlang die Arme um sich, als würde sie trotz der Wärme frieren. „Danke“, murmelte sie. „Danke, dass du vorbeigekommen bist und mir geholfen hast.“
„Ich bringe dich erst mal nach Hause.“ Da in der Umgebung kein anderer Wagen stand, ging er einfach davon aus, dass Shea zu Fuß hergekommen war.
„Dad und Joslyn sind mit dem Baby zum Abendessen bei Grands“, erwiderte sie.
„Dann fahren wir eben zu Callie“, entschied er.
„Muss ich ihnen trotzdem erzählen, was ich gemacht habe?“
„Auf jeden Fall“, betonte er, öffnete die Beifahrertür seines Trucks und ließ sie einsteigen.
„Warum?“
„Weil du es machen musst“, antwortete er, als er hinterm Steuer saß und den Motor anließ. „Sonst ist das ein Geheimnis, und damit will ich nichts zu tun haben, Shea. Dein Dad und ich sind nicht immer einer Meinung, aber er ist nun mal mein Bruder. Er liebt dich, und es ist sein gutes Recht zu wissen, was du so alles treibst.“ Er wendete und bog auf den Feldweg ein, der vom Wasserturm wegführte. „Was hast du dir eigentlich dabei gedacht, da raufzuklettern?“
Eigentlich war es eine rhetorische Frage, ein Einsteiger für eine Unterhaltung. Es gab keinen vernünftigen Grund für eine solche Aktion, aber Jahr für Jahr stiegen Kinder auf den Wasserturm.
„Ich hab‘s getan, weil ich keine Angst mehr davor haben wollte“, antwortete Shea.
„Ich hoffe, das heißt nicht, dass du das wieder machen willst“, gab er zurück und verkniff sich ein Grinsen. Shea hatte den Nagel genau auf den Kopf getroffen, denn er hatte auch
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