Der Berg der Sehnsucht: Big Sky Mountain (German Edition)
hatten. Es hatte wohl daran gelegen, dass sie voller Leidenschaft in der Gegenwart gelebt hatten. Seine Frage ließ sie an ihre Mutter Sherry denken, eine wunderschöne und exzentrische Frau, die zu flatterhaft war, um allein ein Kind großzuziehen. Von einer Sekunde auf die andere war Kendra wie eine Zeitreisende zurück in der Vergangenheit. Sie stand mitten auf dem überwucherten Platz vor dem Trailer ihrer Großmutter, mit einer Hand hielt sie Sherrys Finger umklammert, in der anderen trug sie einen kleinen Koffer mit Spielzeug.
Fünf Jahre war sie damals alt gewesen, nur ein bisschen älter, als Madison es jetzt war.
„Ich bin bald wieder da, versprochen“, hörte sie Sherry so deutlich sagen, als sei seit diesem Sommertag nicht ein Vierteljahrhundert vergangen. „Du bist ein braves Mädchen und setzt dich auf die Veranda, und dann wartest du, bis Grandma von der Arbeit heimkommt. Sie wird auf dich aufpassen, bis ich herkommen und dich abholen kann.“
Vielleicht hätte sie der in aller Eile in einem Secondhandladen gekaufte Koffer stutzig machen sollen, aber Kendra war noch ein Kind, das der eigenen Mutter vertraute. Es wäre ihr nie in den Sinn gekommen, dass jemand sie vorsätzlich belügen könnte.
Wahrscheinlich hatte Sherry gar nicht gewusst, dass sie ihr Lügen erzählte. Sie hatte es immer gut gemeint, es war für sie nur immer wieder schwierig gewesen, all ihre guten Absichten auch in die Tat umzusetzen.
Dann beugte sie sich vor und gab Kendra einen Kuss auf den Kopf, sie versprach, bald wieder zurückzukommen und dann für immer für sie da zu sein. Sie würden ein Haus kaufen, ein schönes Auto und einen Hund. Dann winkte Sherry ihr zum Abschied zu, stieg in ihren uralten Kombi und fuhr ab, wobei der Wagen wie immer eine riesige Wolke aus Abgasen hinter sich herzog.
Kendra setzte sich hin und wartete, da sie nie auf die Idee gekommen wäre, einfach wegzugehen oder Sherrys Wagen hinterherzulaufen.
Als ein paar Stunden später ihre Großmutter nach Hause kam, stieg sie aus ihrem Wagen aus, zündete sich eine Zigarette an und inhalierte genüsslich den Rauch. Dann durchquerte sie den Garten und blieb verdutzt stehen, als sie Kendra entdeckte.
Kendra sah in das faltige, verhärmte Gesicht ihrer Großmutter und konnte keinen Hinweis darauf entdecken, dass sie bei ihr willkommen war. „Das fehlt mir gerade noch“, murmelte die alte Frau verbittert. „Ein Kind, auf das ich aufpassen darf.“
Bei allem Widerwillen nahm Alva Shepherd Kendra dennoch bei sich auf. Sie gab ihr Essen und ein Dach über dem Kopf, und auch wenn es an Liebe und Spaß fehlte, störte sich Kendra nicht daran. Man konnte schließlich nicht alles haben. Und hätte Sherry sie an jenem Tag nicht dort abgesetzt, wäre Kendra vermutlich bei dem Autounfall ums Leben gekommen, der ihrer Mutter ein halbes Jahr später den Tod brachte.
Danach verhielt sich Grandma ihr gegenüber etwas netter, jedoch nicht aus Mitgefühl. Sie schien ja nicht mal um ihre eigene Tochter zu trauern, deren Tod in Grandmas Augen wohl das angemessene Ende eines vergeudeten Lebens war. Dass sich ihr Verhalten gegenüber Kendra änderte, lag einzig daran, dass sie nach Sherrys Tod monatlich von den Behörden einen Scheck zugeschickt bekam, weil sie sich nun um ihre Enkelin kümmerte. Dadurch ging es ihnen beiden etwas besser.
„Kendra?“ Hutch zog an ihrer Hand und brachte sie zurück ins Jetzt und Hier.
„Es gibt zu viele kaputte Menschen auf der Welt“, sprach sie den Gedanken laut aus, der ihr in diesem Moment durch den Kopf ging.
Hutch sah sie eine Weile an, schließlich stimmte er ihr mit heiserer Stimme zu: „Da hast du recht. Aber es gibt immer noch genügend gute Menschen, die dafür sorgen, dass wir auf dem richtigen Kurs bleiben.“
Gelächter aus einiger Entfernung verriet ihnen, dass die Spiele begonnen hatten, was auch bedeutete, dass das Picknick eröffnet war. Ja, Hutch hatte natürlich recht. All diese Menschen hier in Parable, die zusammengekommen waren, um den Friedhof auf Vordermann zu bringen, die Kartoffelsalat und Hotdogs ausgaben und Spiele für die Kinder veranstalteten, die sich noch viele Jahre später an diese schönen Zeiten erinnern würden - sie waren der Beweis dafür, dass es auch die Guten gab.
In diesem Augenblick verspürte Kendra eine sehnsüchtige Hoffnung, dass Orte wie Parable für alle Zeit existieren würden, damit Babys zur Welt kommen und aufwachsen, als Erwachsene heiraten und ein hohes Alter erreichen
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