Der Bernstein-Mensch
verdankte er den Jahren, die er im Weltraum verbracht hatte. Die Schwerelosigkeit hatte sein Inneres liebkost und die lebenswichtigen Organe davor bewahrt, an ihrem eigenen Gewicht zu ersticken. Dennoch war er nicht mehr jung. Immer häufiger geschah es, daß sein Körper sich einfach weigerte, Befehle zu erfüllen, denen er einst automatisch gehorcht hatte. Diese Unsicherheit des Körpers führte natürlich zu einer noch tieferen Unsicherheit des Geistes. Menschen starben, so glaubte er, letzten Endes aus Gründen, die sie sich selbst schufen, aber Bradley gab sich nicht auf. Er war diesem Problem zum ersten Mal vor fünfunddreißig Jahren begegnet: etwas Sinnvolles zu entwickeln, um ein strahlendes Alter zu verleben. Sollte er sich mit gekreuzten Beinen hinsetzen und seinen Geist zum Glauben mesmerisieren, oder sollte er das Universum durchsuchen, durchforschen und durchstöbern nach dem rechten Zeichen, dem einen, kostbaren Kiesel, der die augenblickliche Offenbarung des Ganzen brächte? Als er jung war, hatte er das letztere versucht; im Alter neigte er zu ersterem. Und jetzt, da der Tod unerbittlich näherkam, erschienen ihm beide Methoden lächerlich. Ohne Zweifel habe ich versagt, dachte er, denn den Beweis dafür hatte er unübersehbar in dem unschuldigen Staunen der jungen Klosterschwester gefunden: In ihrer Welt gab es einen Gott, in seiner nicht. Er konnte ihrer klammernden Umarmung nicht entrinnen.
Bruder Ling, dessen weiße Kutte achtlos den Staub aufwirbelte, trat Bradley hinter dem Innentor entgegen. Bradley hatte Ling mehr als drei Jahrzehnte lang geliebt und ihm gedient, aber danach kannte er diesen zierlichen, gelben Mann nicht besser als zuvor. Warum muß ich mich heute mit solchen trostlosen Gedanken quälen? fragte er sich. Es mußte an dem Hubschrauber liegen. Auch diesen Schmerz würde er ihnen zum Vorwurf machen.
„Ja, sie sind wieder meinetwegen gekommen“, sagte er zu Ling, denn er wußte, daß dieser nach dem Hubschrauber fragen wollte.
„Und du wirst mit ihnen sprechen?“
„Ich – nein.“ Dann nickte er. „Nein, schick sie in meine Zelle.“
Das Kloster war aus den Ruinen eines alten Maurentempels erbaut worden. Die Steine waren vom Alter verwittert, und doch hatte die tödliche Gleichförmigkeit der Wüstenumgebung sie konserviert. Jede Nacht stieg Bradley auf die Spitze des östlichen Turmes und betrachtete die Sterne. Das sollte eine Abschiedsgeste sein, mit der er das Universum, das er einst bewohnt hatte, verließ und ein anderes betrat; aber in der nächsten Nacht kam er dann doch wieder zurück und starrte nach oben.
„Sie sollten dir deine Ruhe lassen, Bruder Bradley.!“
„Vielleicht – aber sie werden es kaum tun.“
„Sie glauben, du wirst dort draußen gebraucht.“
„Niemand wird jemals gebraucht, Bruder Ling.“
Seine Zelle war natürlich völlig kahl. Eine saubere Decke lag ordentlich zusammengefaltet in einer Ecke. Bradley setzte sich mitten auf den Boden und ließ die Tür offen stehen. Sein bärtiges Kinn ließ er müde auf die Brust sinken. Er lächelte. Automatisch war er in die Technik verfallen, die schon vorher gute Dienste getan hatte. Es war eigentlich nicht notwendig gewesen, hierher zu kommen; er hätte draußen bleiben und sie dort empfangen können. Aber dies war sein Revier – sein Schlupfwinkel –, und diese schützende Leere gab ihm Kraft. Wenn sie kamen und ihn fanden, einen gebeugten alten Mann, der auf dem steinernen Boden einer kahlen Mönchszelle hockte, würden sie sogleich verstehen, daß sie gescheitert waren.
Diesmal kam nur ein einziger Mann. Bradley sah den Schock in seinem Gesicht und las seine Gedanken: Kann dies Bradley
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