Der Bernstein-Mensch
erwartete, irgendwo hier draußen zu sterben. Sie hatten ihm Tunesien genommen, aber er hatte sich ein neues Kloster geschaffen, hier neben dem Jupiter – sein Büro.
Bin ich gleichgültig geworden? fragte er sich, und er drehte die Nachricht in den Händen. Ist mein Herz im Laufe der Jahrzehnte kalt und verkrustet geworden? Oder bin ich nur sparsamer mit meiner Zuneigung? Fühle ich noch genauso wie früher, und sind nur die Dinge, die mir am Herzen liegen, weniger geworden?
Er fand, daß Mara und Corey ihm am Herzen lagen, wenn er sie auch nicht gern hatte. Diese genetischen Freaks, diese Nippies – ihre bloße Existenz war ihm schon ein Abscheu. Eine mittelalterliche Einstellung vielleicht, aber fest verwurzelt in seinem Glauben, daß man die menschliche Rasse im Großen nicht vollkommener oder besser machen konnte. Er hatte die letzten fünfzig Jahre seines eigenen Lebens mit dem vergeblichen Versuch hingebracht, eine einzelne Seele (seine eigene) zumindest in manchen Punkten zu vervollkommnen, und er war ganz und gar nicht sicher, daß ihm das gelungen war. War Mara ein Fortschritt? In seinen Augen nicht. Intelligenz war eine Tugend, deren Bedeutung dahinschwand, wenn man älter wurde. Und Corey? Der Gedanke ließ ihn schaudern.
Er dachte zurück an eine junge Frau, die er in seinen letzten Jahren in dem tunesischen Kloster gekannt hatte, Catherine McClair, eine fromme, gebildete Christin, die ihm eines stillen, schweigsamen Nachmittags anvertraut hatte, daß der Messias zur Erde gekommen sei.
Er nahm leicht ihre Hand; die glatte, zarte und vom Alter unberührte Haut zu spüren erweckte ein glückliches Gefühl in ihm. „Welchen meinst du?“ Er erwartete einen Scherz. „Es gibt mehrere.“
„Nein, keiner von denen.“ Ihre Lippen waren rot geschminkt, eine uralte Mode; ihr einfach zurückgebundenes Haar enthüllte ein ovales Gesicht. „Christus war die Inkarnation Gottes. Ich meine die Inkarnation des Menschen.“
„Das mußt du mir erklären, Cassie.“
Sie schwitzte niemals in der Umhüllung ihres olivfarbenen Kapuzenmantels. Die Wüstenhitze stieg trocken und brennend zum Himmel. „Gott schuf den Menschen. Glaubst du das nicht auch?“
„Gelegentlich, ja.“
„Dann mußt du mir auch zustimmen, daß es das höchste Ziel des Menschen sein muß, diesen Prozeß umzukehren und Gott zu schaffen.“
„Nein.“
„Und das hat man getan. Durch die Manipulation …“
„Nicht diese Monster, Cassie!“ Der Schock des Grauens ließ seine Hände zittern. Bis zu diesem Augenblick hatte Bradley die Frau beneidet. Er wollte ihr helfen. „Ich bin nicht völlig uninformiert. Einer von ihnen ist in Houston. Ein Ding in einem Stahlkasten. Es ist nicht einmal ein Mensch, Cassie. Wie kannst du es Gott nennen?“
„Und Mara?“ fragte sie.
„Wer?“ Ihm fiel ein, daß Cassies Vater Genetiker war. Hatte sie ihre Ideen vielleicht von ihm?
„Vater kennt sie. Mara ist die, mit der es geklappt hat. Bis jetzt haben sie sie unter Verschluß gehalten. Die Schwachköpfe können das Wunder, das sie geschaffen haben, nicht begreifen. Aber sie ist es, Bradley. Mara ist … sie ist göttlich.“
Manchmal fragte er sich, wieviele zukünftige Catherine McClairs wohl auf der Erde leben mochten. Hatte es deswegen jemand so eilig gehabt, Mara hierher zum Jupiter zu schicken?
Die Bürotür öffnete sich und Mara trat ein. Corey, tickend in seinem Kasten, war bei ihr.
„Mach es kurz, Bradley“, sagte Mara. „Tsubata und ich wollen in einer Stunde hinaus.“
Bradley betrachtete seinen Schreibtisch, die geschliffene Platte, den Achten Avatara. Hoch oben auf einem der Bücherregale tanzte Shiva ebenfalls – das kontrollierte
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