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Der Bernsteinring: Roman

Der Bernsteinring: Roman

Titel: Der Bernsteinring: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Schacht
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herausgefunden hatte, dass er in der Stadt weilte? Wenn sie ihre nächtlichen Ausflüge fortsetzte, würde das wohl unvermeidlich sein. Wenn nicht – nun, auch der Gang über den Alten Markt am lichten Tag oder der Klatsch der Nachbarinnen und Mägde würde ihr von dem begnadeten Sänger Kunde bringen.
    Und begnadet war er. Er sang nun eine alte Ballade, eine gewaltige Sage von Rittern und Bettlern, Kriegern und Barden, von einem mächtigen König und klugen Frauen, von den Dieben und den Richtern, den Törichten und den Weisen. Er sang von den frommen Jungfrauen und der unkeuschen Verführerin, der liebenden Mutter und der kaltherzigen Verräterin. Und der Faden, der die Gestalten miteinander verwebte, war die Liebe. Er beschwor sie mit den Worten der Sehnsucht, einer zeitlosen, nie endenden, unerfüllbaren Sehnsucht. Anne und Elfrieda standen wie verzaubert in der Menge und lauschten, sie hatten die Arme umeinander gelegt, und ihre tränenfeuchten Wangen berührten sich.
    Als er geendet hatte, spendeten ihm seine Zuhörer lauten Beifall, und Anna erwachte aus ihrer Versunkenheit.
    »Wo ist Valeska?«, fragte sie, als ihr plötzlich bewusst wurde, dass das Mädchen nicht mehr in ihrer Nähe stand.
    »Sie wird sich mal wieder nach vorne gedrängelt haben.«
    »Wir müssen sie suchen. Es wird Zeit, zurückzugehen. Hör, Elfrieda, die Glocken läuten schon zur Vesper.«
    Aber die kleine Magd blieb verschwunden, und Elfrieda meinte: »Lasst sie, es ist nicht weit bis zum Stift, und sie kennt sich in den Gassen aus. Gönnt ihr ein wenig Freiheit.«
    Anna nickte. Valeska hatte oft genug alleine Botengänge für sie gemacht. Sie würde schon sehr bald zurückkommen, denn zumindest eine Mahlzeit würde sie nie ausfallen lassen. Sie sah sich noch einmal in der Menschenmenge um, gewahrte ganz in ihrer Nähe Horsel, die Schenkenwirtin, und nickte ihr mit einem Lächeln zu. Aber ihre ehemalige Amme drehte sich ostentativ weg. Also beachtete Anna sie auch nicht weiter. Den unfreundlichen Blick, der ihr folgte, bemerkte sie aus diesem Grund nicht.
    Die Zeit zwischen Vesper und Complet ging vorbei, ohne dass die Magd sich im Stift einfand. Nach dem Abendgebet fragte Anna noch einmal im Mägdehaus nach ihr, aber auch hier hatte sie niemand gesehen. Mit sorgenvoller Miene kehrte sie ins Skriptorium zurück, wo sie vor der Complet an Unterlagen gearbeitet hatte, die sie für die Priorin kopieren sollte. Sie zündete zwei Kerzen an, und setzte sich an ihr Schreibpult. Sie war zu unruhig, um einfach ins Bett zu gehen, und beschloss, auf Valeska zu warten. Die Zeit nutzte sie, um sich mit ihrem Stundenbuch zu beschäftigen. Denn nun hatte sie ein Gesicht für Mercurius, den quecksilbrigen, wortgewandten Boten, und die letzte Seite der Prim nahm Gestalt an. Es war der Sänger Julius, der unter ihren geschickten Fingern entstand, und der Vers, den sie ihm zuordnete, lautete: »Singt dem Herren ein neues Lied, singt ihm mit lieblich klingendem Schall.«
    Ein Luftzug ließ die Kerzen flackern. Anna drehte sich hastig um und erwartete, Valeska in den Raum schlüpfen zu sehen. Aber es war nicht die Magd, sondern die vom Alter gebeugte Gestalt der Äbtissin Ida-Sophia, die in der Tür stand.
    »Ehrwürdige Mutter!«
    Anna stand auf, um ihr Achtung zu erweisen.
    »Setz dich, Kind. Ich will mit dir reden.« Die Äbtissin zog sich einen Stuhl herbei und setzte sich neben das Schreibpult. »Es ist spät, Anna. Zu spät, um noch zu arbeiten.«
    »Ich kann nicht schlafen.«
    »Ich weiß. Du kannst oft nicht schlafen in der letzten Zeit. Was macht dich so unruhig?«
    Anna rieb sich die müden Augen.
    »Valeska, meine Magd, ist nicht zurückgekommen.« »Von eurem Gang zum Rathaus?«
    »Ja. Es gab Gaukler auf dem Alten Markt. Dort ist sie in der Menge verschwunden. Ich habe Angst um sie.«
    »Mägde haben die Angewohnheit, gelegentlich zu verschwinden. Junge vor allem. Das mag zwar heute der Grund deiner Unruhe sein, nicht aber der der letzten Wochen. Nun, Kind, zeige mir, woran du zu so später Stunde arbeitest.«
    Die Äbtissin zog ein Einglas aus der Gürteltasche und hielt es sich vor das Auge, als sie sich interessiert über die Seite beugte, an der Anna gerade die ersten Konturen mit roter Farbe gefüllt hatte. Ihr war die intensive Musterung unbehaglich, sie hatte nie viel über das Stundenbuchgesprochen und die Seiten immer unter Verschluss gehalten. Nur Rosa und einst Dionysia kannten die Bilder und Verse. Aber sie konnte der Äbtissin nicht

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