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Der Beschütze

Der Beschütze

Titel: Der Beschütze Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Belinda Bauer
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Messer hatte sie ein paar Stufen weit fallen lassen und ihren Becher angestoßen, so dass ein wenig Tee den Teppich gesprenkelt hatte.
    Lucy war schon öfter ausgerutscht, sie war schon öfter hingefallen, sie hatte sich schon schlimmer wehgetan als jetzt.
    Diesmal jedoch … Diesmal verstand sie den Tod.
    Das Haus war in einen Kokon aus Schnee gehüllt, der es so still machte wie ein Grab, und Lucy wurde sich der Tatsache bewusst, dass ihr eigenes Atmen das einzige Geräusch war, das ihr Leben von ihrem Sterben abgrenzte.
    Sie hielt die Luft an.
    Sie saß auf halbem Weg auf der Treppe und hielt den Atem an und ließ die Stille über ihre Ohren herfallen.
    So würde es sein.
    Unter der Erde.
    Still und stumm und hilflos in einem Kasten liegen und darauf warten, dass die Natur in sie hineinkrabbelte, damit sie sie wieder für sich beanspruchen konnte.
    Lucy Holly war nicht dumm. Sie verstand sehr wohl, dass ihr dies nicht mehr bewusst sein würde, dass dies nur im spirituellen Sinne so sein würde und dass ihr Leib bloß Fleisch war. Fleisch, das an jungen Knochen verfaulte.

    Diese lebhafte Vorausschau jedoch war neu. Das Gefühl, dass sie in diesem Haus lag, ihren Ehering und ein Blumensträußchen auf der Brust, und dass der Tod schließlich zusammen mit dem Schnee eingetroffen war und sich gerade jetzt gegen die Fenster drückte, sich an den Ritzen versuchte, die die Mäuse und die Spatzen geschaffen hatten, versuchte hereinzuschlüpfen, um sich ihrer zu bemächtigen, während sie auf halber Höhe auf der Treppe saß und nicht einmal Jonas’ Messer hatte, um sich zu schützen. Das war alles neu.
    Vorher  – vor den Tabletten  – war der Tod eine abstrakte Vorstellung gewesen, eine Methode, die Schmerzen zu lindern. Schmerzlinderung war das Ziel gewesen  – und sie hatte kaum über den Tod nachgedacht, der das bewerkstelligen würde. Jetzt war ihr klar, dass sie um eine Ecke gebogen war. Sie wusste nicht nur, dass der Tod kam, sie wusste, wie es sich anfühlen würde, wenn es so weit war. Wie es aussehen würde. Wie es schmecken würde.
    Es war überwältigend. Und vollkommen unwichtig.
    Sie hatte gedacht, sie würde weinen, stattdessen jedoch wurde sie ganz ruhig, ganz gelassen, als hätte ihr jemand etwas in den Tee getan. Sie wünschte, es wäre so. Plötzlich wünschte sie sich mit aller Macht, dass jemand ihr etwas in den Tee getan hätte und dass sie einschlafen würde, hier auf der Treppe, die immer knarrte. Und dass sie kommen und sie ganz sanft umbringen würden, damit sie sich nie wieder mit den restlichen Stufen würde abmühen müssen. Sie waren eine Mühsal, und sie hatte sie satt.
    Ihr Hinterteil begann zu schmerzen, und sie schaute auf die Uhr und sah, dass sie über eine Stunde lang hier gesessen hatte. Kein Wunder, dass ihr so kalt war und sie so dringend aufs Klo musste.
    Sie würde draußen auf die Toilette gehen.
    Lucy ließ die Zahnpasta und den Becher mit kaltem Tee auf der Treppe zurück.
    Sie nahm das Messer mit, als sie daran vorbei treppabwärts
rutschte, und als sie unten ankam, klappte sie Das Diktat des Schicksals zu und schlug es nie wieder auf.
     
    Benommen ging Jonas um kurz vor sechs zu Fuß nach Hause.
    Seit Danny in seinen Armen gestorben war, hatte er das Gefühl zu schweben. Wie ein Astronaut beim Weltraumspaziergang, dessen Verbindungsleine durchtrennt worden ist, merkte Jonas, wie er ganz langsam von allem davontrieb, ins Nichts hinein.
    Woher wusste Marvel das?
    Jonas hatte den genauen Wortlaut der ersten beiden Botschaften nicht spezifisch wiedergegeben. Er hatte das Wort »Heulsuse« nicht aussprechen wollen, deshalb hatte er sich auch zu der ersten Botschaft nicht näher geäußert, damit es übereinstimmte, auch wenn das übereinstimmend dämlich wirkte. Marvels Worte jedoch hatten das Ganze wieder glasklar herausgestellt.
    Und so was nennt sich Polizist!
    Warum hatte er das gesagt? Woher wusste er das?
    Während Graupelschauer Jonas ins Gesicht zu spucken begannen, zogen seine Gedanken behäbige, schwerkraftfreie Kreise um Marvel, betrachteten ihn aus ganz neuen Blickwinkeln und mit ganz neuen Augen.
    Marvel hatte ihn nie leiden können. Er wusste nicht genau, wie, aber er hatte es geschafft, den Mann gleich zu Beginn der Ermittlungen gegen sich aufzubringen.
    Jetzt begann er, sich zu fragen, warum.
    Selbst von seinem Platz vor Margarets Haustür aus hatte Jonas den Eindruck gehabt, dass Marvel mit dem Fall nicht klarkam, dass er Tatverdächtige nach dem

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