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Der Beschütze

Der Beschütze

Titel: Der Beschütze Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Belinda Bauer
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Schrotflintenprinzip auswählte, dass bei den Ermittlungen keine echte Zielgerichtetheit erkennbar war.
    Die Art und Weise, wie er auf Jonas’ Anwesenheit vor Margaret Priddys Tür überreagiert hatte, sprach für einen Mann,
der unsicher und haltlos war, und Jonas glaubte, Alkohol in seinem Atem gerochen zu haben. Oder vielleicht auch nur in seinem Schweiß.
    Als angeblich das Erbrochene verschwunden war, hatte Marvel gesagt, er solle seinen Job machen  – und so wie er das gesagt hatte, hatte bis zu Heulsuse nicht mehr viel gefehlt .
    Und jetzt hatte er die erste Botschaft fast Wort für Wort zitiert.
    Hatte er sie gesehen?
    Hatte er sie geschrieben?
    Es hörte sich bescheuert an, sogar in seinem eigenen Kopf, aber bestand zwischen Marvel und dem Mörder irgendeine Verbindung?
    Jonas schauderte bei dem Gedanken. Reynolds’ Visitenkarte steckte noch immer in seiner Brusttasche. Würde Reynolds Diskretion wahren, wenn Jonas ihm von seinen Befürchtungen erzählte? Er bezweifelte es. Jonas hatte den Eindruck, dass Reynolds Marvel nicht besonders mochte, doch das bedeutete nicht unbedingt, dass er sich gegen ihn stellen würde.
    Er schaute in den Eisregen hinauf und stellte fest, dass er beinahe zu Hause war.
    Er musste mit Lucy reden. Lucys Gehirn arbeitete selbst in den besten Zeiten schneller als seins, und im Augenblick war sein Gehirn so vollgestopft und trotzdem bar jeglicher Lösungen, dass es war, als dehne sich ein gewaltiges Schwarzes Loch langsam in seinem Schädel aus, bereit, hervorzubrechen und die ganze Welt in komprimiertem Nichts zu verschlingen.
     
    Lucy lag weinend und zusammengekrümmt vor Schmerzen auf dem Wohnzimmerboden, ein ungeöffnetes Pillenfläschchen neben sich.
    Augenblicklich schrumpfte das Schwarze Loch in Jonas’ Kopf zu einem Nadelstich zusammen, und das Herz schnellte ihm vor Angst in die Kehle.

    Er sank neben ihr auf den Teppich und versuchte, sie in seine Arme zu ziehen, doch sie rollte sich noch enger zusammen und wehrte sich.
    Ihr Kopf war ganz heiß vor Tränen, der Rest von ihr jedoch war eiskalt vom Liegen auf dem Boden. Das Feuer war längst ausgegangen und zu weißer Asche zerfallen. Jonas holte ihre karierte Decke und wickelte sie um seine Frau, dann legte er sich neben sie und schlang die Arme um das Ganze. Er konnte sie warm halten, auch wenn er sie nicht gesund machen konnte.
    »Hast du etwas genommen, Lu?«
    »Nein!«, schrie sie. »Nein, hab ich nicht!«
    Er drückte sie an seine Brust. »Ich meine, gegen die Schmerzen.«
    »Dann würde es doch nicht so wehtun!«, brüllte sie ihn an  – und brach abermals in hoffnungslose Tränen aus.
     
    Eine Stunde später lagen sie in derselben Stellung da, allerdings auf dem Bett, wo Lucy sich hatte hintragen lassen.
    Die Stille war vollkommen  – was Abgeschiedenheit und Winter nicht gedämpft hatten, hatte der Schnee zum Schweigen gebracht.
    Jonas hatte ihr drei Schmerztabletten gegeben, und das Schlimmste war vorüber.
    »Wie geht’s dir?«, flüsterte er.
    »Besser«, antwortete sie. Besser als was, sagte sie nicht, doch Jonas verstand das, und er hoffte, dass sie das wusste.
    Ohne zu blinzeln starrte Jonas zur anderen Seite des Raumes hinüber, den er immer als das Zimmer seiner Eltern ansehen würde.
    »Erzähl mir von deinem Nachtdienst«, sagte sie. Noch immer schwang die erschöpfte Spur eines Schluchzens in ihrer Stimme mit.
    Sie musste ihre eigene Nacht vergessen. Das wusste er.
    »Ich kann nicht.«

    »Warum nicht?«
    Wie konnte er es ihr erzählen? Er fühlte sich innerlich ganz taub. Er fühlte sich völlig losgelöst. Er wusste nicht mehr, wo Grenzen zwischen Vergangenheit und Gegenwart gezogen werden konnten, zwischen Gut und Böse, Recht und Unrecht.
    »Jonas?«
    Tigger für Danny, Taffy für ihn. Das Gleiten von poliertem Leder an seinen Knien und das »Zufassen und Loslassen«-Wunder eines ganzen Tieres, das von seinen Jungenhänden geführt wurde. Das Wölben und Stauchen von Muskeln unter seinem Hinterteil. Danny neben sich dahinfliegen zu sehen und zu hoffen, dass er ebenso frei aussah wie sein bester Freund. Die eifrigen kleinen Ohren, zwischen denen hindurch er seine ganze Welt betrachtete. Eine glückliche Weile lang.
    Jonas erinnerte sich.
    Obgleich er ein Leben damit zugebracht hatte zu vergessen.
    Er erinnerte sich an den berauschenden Geruch des Gerstenschrots und des Heus, an das leise Geräusch von Hufen, die Stroh über Beton wischten, und an den Samtatem von Taffys Nase, die sein

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