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Der Beschütze

Der Beschütze

Titel: Der Beschütze Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Belinda Bauer
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zurückdachte.
    Er merkte, wie ein ungewohntes Lächeln um seine Mundwinkel zuckte.
    »Irgendwas Komisches, Sir?«, erkundigte sich Reynolds.
    »Nein«, knurrte Marvel. Der Kindheitstraum, Busfahrer zu werden, war das Letzte, das er einem verbildeten Arsch wie Reynolds auf die Nase binden würde.
    Innen war die Werkstatt sehr viel sauberer und ordentlicher, als ihr Äußeres versprach. Die Werkzeuge waren sorgsam aufgehängt und die Arbeitsflächen einigermaßen aufgeräumt. Automatisch trennten sich die beiden Männer und schritten in entgegengesetzter Richtung um den Raum herum.

    »Sie glauben, es war beide Male derselbe Täter?«, sinnierte Reynolds.
    »In einem Dorf von dieser Größe?«
    »Unterschiedliche Vorgehensweise.«
    »In einem Dorf von dieser Größe?«, fragte Marvel abermals zurück.
    »Sie wissen doch, dass Arnold Avery all die Kinder hier in der Gegend auf dem Moor vergraben hat. Manchmal schlägt der Blitz eben doch zweimal ins selbe Haus ein.«
    Marvel grunzte.
    Reynolds strich mit den Fingern über die scharfkantigen Kiefern eines Schraubstocks. Er drehte den Stab und genoss die gleitende Lautlosigkeit, mit der er sich bewegte.
    Als Junge hatte Reynolds Busfahrer werden wollen. Er erinnerte sich lebhaft daran, wie er auf dem Weg zur Schule  – und später zur Universität  – mit dem Fahrrad durch das Stadtzentrum von Bristol gefahren war. Jedes Mal, wenn er irgendwo in einer Autoschlange warten musste, hielt er neben einem Bus, nur um dessen Motor zu lauschen, dessen dröhnender Bass von sonderbar gehauchten höheren Tönen überlagert wurde. Ein erhabenes Metallorchester tief in den gewaltigen Hallen dessen, was Reynolds stets als das perfekte Massentransportmittel betrachtet hatte. Selbst mitten im Kriminologie-Diplom hatte ein Teil von ihm immer davon geträumt, alles hinzuschmeißen und den Rest seines Lebens hinter dem Lenkrad zu verbringen, hoch über dem Verkehr, mit dem Motor eines Routemaster oder eines Leyland National direkt unter seinem Sitz. Das war ein Traum, von dem er niemals irgendjemandem erzählt hatte. Niemand würde das verstehen.
    Hinter ihm stieß Marvel einen leises Pfiff aus, und als Reynolds sich zu ihm umdrehte, sah er ihn etwas hochhalten, das wie eine Kleenex-Schachtel aussah.
    Als er näher trat, sah er, dass die Schachtel mit Wegwerf-Latexhandschuhen gefüllt war.

10 Tage
    Jonas hasste den Arzt.
    Er hieß Dr. Anil Wickramsinghe, und Jonas war mittlerweile überzeugt, dass er persönlich an Lucys körperlichem Verfall schuld war. Dr. Wickramsinghe war in mittleren Jahren, bekam langsam eine Glatze und war vollkommen harmlos, doch Jonas hatte immer dieses Gefühl ganz tief im Bauch, dass er sie hinhielt. Dass Dr. Wickramsinghe aus irgendeinem Grund, den er nicht begreifen konnte, dachte, es sei im besten Interesse aller Beteiligten zuzusehen, wie Lucy Holly unter Schmerzen, Angst und Depressionen litt.
    So wie heute.
    Heute hatte Dr. Wickramsinghe mit schief gelegtem Kopf Lucys stockender Schilderung vom Fortschreiten ihrer Krankheit gelauscht und Betroffenheit vorgetäuscht. Als sie sagte, sie hätte am Mittwoch einen Teebecher fallen lassen, weil sie nicht hatte fühlen können, dass sie ihn nicht richtig umfasst hielt, nickte er und schnalzte mitfühlend mit der Zunge. Als sie zwei Episoden mit heftigen Oberkörperschmerzen schilderte, bei denen sie sich vor Qual auf dem Boden gekrümmt hatte, nickte er und machte ganz hinten in der Kehle ein kleines »Mm«-Geräusch. Und als ihre Lippen zitterten, während sie erzählte, dass sie mitten in Tanz der Teufel plötzlich nicht mehr richtig hätte sehen können, hatte er geseufzt, als teile er ihren Schmerz.
    »Wann war denn das?«, fragte Jonas scharf. »Das hast du mir gar nicht erzählt!«
    Lucy biss sich auf die Lippe.
    »Warum hast du mir das nicht gesagt, Lu?«

    »Ich hab’s dir gesagt, Jonas, bestimmt.«
    Wenn sie seinen Namen so benutzte, log sie. Nicht wie Verbrecher logen, sie war einfach nur… sparsam mit der Wahrheit, wie eine Politikerin.
    »Wenn du mir so etwas nicht erzählst, Lu, wie kann ich dir dann helfen?«
    Sie war zu rücksichtsvoll, um es laut auszusprechen, doch er kannte die Antwort. Er konnte ihr nicht helfen  – wozu sollte sie es ihm also erzählen?
    Dr. Wickramsinghe legte beide Hände flach auf den Tisch, als sei er im Begriff, eine Entscheidung zu treffen. Als würde er gleich aufstehen, zu dem Geheimsafe hinter den hässlichen Segelschiffen über seinem Schreibtisch gehen

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