Der Beschütze
und die echten Medikamente hervorholen, die richtigen Tabletten, die Lucys Leiden ein Ende machen würden. Das Kombinationsschloss drehen, und Sesam, öffne dich, hier war das Heilmittel. Jedes Mal, wenn sie hier waren, rechnete Jonas damit, dass er gestand, bisher hätten sie ihr Zuckerlösung und Erdnuss-M&Ms gegeben, jetzt aber – endlich! – sei sie krank genug, um die gute Medizin herauszurücken.
Stattdessen lehnte sich Dr. Wickramsinghe auf seinem Stuhl ein wenig zurück, als wolle er sich von diesem ärgerlichen Fall da vor ihm distanzieren, und sagte: »Ich fürchte, das ist die Entwicklung, mit der wir rechnen müssen.«
Jonas wäre am liebsten mit einem Satz über den Schreibtisch gesprungen, hätte ihn an der Kehle gepackt und seinen Kopf immer wieder gegen die Segelschiffe geknallt, bis sich das Meer rot färbte.
SEHEN Sie es denn nicht?, wollte er brüllen. SEHEN Sie nicht, dass sie HILFE braucht?
Lucys warme Hand auf seinem Oberschenkel verriet ihm, dass sie wusste, was er dachte, während sie Dr. Wickramsinghe recht gab. »Natürlich, das verstehe ich. Aber gibt es noch etwas, was wir gegen die Symptome tun können?«
Das war ja so typisch Lucy. So typisch, ihn zu beruhigen
und dafür zu sorgen, dass das Dreckschwein, das sie umbrachte, sich dabei weniger beschissen fühlte. Was können wir gegen die Symptome tun? Als steckten sie und Dr. Wickramsinghe gemeinsam in diesem Schlamassel. Nicht zum ersten Mal stellte Jonas sich vor, wie Lucy zwei Fünfjährige trennte, die sich prügelten, wie sie den Streit schlichtete, die Tränen trocknete, sie dazu brachte, sich die Hand zu geben. Bei diesem Gedanken liebte er sie mehr denn je, auch wenn das hieß, dass der Mann auf der anderen Seite des Schreibtischs nicht bekam, was er verdiente.
»Wir versuchen es mit mehr M&Ms«, entschied Dr. Wickramsinghe. »Und ein paar Smarties, und eine große Flasche Multivitaminsaft.«
Natürlich sagte er nicht genau das, doch Jonas fand, dass er es genauso gut so hätte ausdrücken können.
Auf dem Nachhauseweg ließ Jonas sich Zeit. Die größeren Straßen waren gestreut worden, doch wenn sie den Termin nicht gehabt hätten, wären sie niemals mit Lucys altem VW-Käfer losgefahren. Bei dem lag das ganze Gewicht auf den Hinterrädern, so dass der Kühler nach Belieben hierhin und dorthin schlingerte, auf Hecken zuschlidderte und mit den Straßengräben flirtete. Er war so an den Land Rover mit Allradantrieb und Traktionskontrolle gewöhnt, dass sich der VW bei diesem Schnee anfühlte wie ein Rollschuh. Als sie den Hügel hinunter nach Shipcott hineinfuhren, konnten sie ungefähr auf halbem Weg durchs Dorf eine Menschenschar auf der Straße stehen sehen. In dem kurzen Moment, bevor sie hinter den Hecken verschwand, glaubte Jonas, ein Pferd erblickt zu haben, und ihn beschlich ein unbehagliches Gefühl.
Lucy sah ihn fragend an, doch er konnte nur die Achseln zucken.
Sie verloren die Menge aus den Augen, bis sie um die Kurve kamen. Jonas verlangsamte die Fahrt noch mehr, dann
parkte er ein wenig auf gut Glück vor dem Laden und stieg aus.
»Was ist denn los?«, fragte er Billy Beer.
»Der Marsh-Junge ist durchgedreht«, antwortete Billy ungehalten, als passiere das andauernd und alle hätten es gründlich satt.
Jonas spürte, wie sich bei diesen Worten sein Magen verkrampfte. Eilig schob er sich durch die Menge und erblickte Danny Marsh im Jagdkostüm – mit schwarzsamtener Reitkappe, weißer Reithose und Reitstiefeln mit rotbraunem Rand –, der ein großes braunes Pferd am Zügel hielt. Der Braune war gesattelt, aber nicht geputzt; getrockneter Schlamm klebte an seinen Beinen, und seine Mähne war ein staubiges Gewirr aus Schmutz und Zweigen.
Ehe Jonas etwas sagen konnte, sah Danny ihn und lächelte übers ganze Gesicht. »Jonas! Wir gehen auf die Jagd! Kommst du mit?« Er stürzte auf Jonas zu, woraufhin das Pferd den Kopf aufwarf und die Augen verdrehte, so dass das Weiße zu sehen war. Danny ruckte an den Zügeln. »Ruhig, Tigger! Steh!« Dann schlang er lachend den Arm um Jonas.
Jonas betrachtete die Szene. Danny und das Pferd, von dem Jonas wusste, dass es nicht seins war. Hinter ihm standen Marvel und sein Team, auch die Frau war dabei – Rice hieß sie, glaubte er –, die fast den Tränen nahe zu sein schien. Im Türrahmen seines Hauses stand Alan Marsh und sah mit ausdruckslosem Gesicht zu, wie sein Sohn vor seinen Augen aus den Fugen ging.
»Was gibt’s denn, Danny?«,
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