Der bessere Mensch
Müller Born getötet hat …“
„Warum sollte sie?“
„Weil er ein Rassist war?“
„Offensichtlich nicht, sonst wäre er nicht mit ihr ins Bett …“
„Das ist kein Grund … die Nazis haben auch jüdische Frauen vergewaltigt …“
„Lassen Sie’s gut sein … und bleiben Sie bei Ihrem System, anstatt meine Methoden abzukupfern …“
„Nein, nein … ich verstehe sie nur besser … und … ich meine, das ist doch genau das, was uns besser machen kann … dass wir gemeinsam in einem Fall aufgehen, uns unterstützen und austauschen … wie Organe, die zur Versorgung wechselweise …“
„Sie fantasieren“, unterbrach Schäfer Bergmann und trat an dessen Bett, „ich glaube, ich sollte Sie jetzt schlafen lassen.“
„Na gut“, antwortete Bergmann, schloss die Augen und atmete nach einer Minute tief und gleichmäßig.
„Bis morgen“, flüsterte Schäfer und verließ das Zimmer.
Aufgewühlt, wie er war, beschloss er, zu Fuß nach Hause zu gehen. Als er den Hernalser Gürtel überquerte, um in den siebzehnten Bezirk zu gelangen, übersah er die rote Fußgängerampel und wäre fast von einem Kastenwagen angefahren worden. Mitten auf dem Zebrastreifen blieb er stehen und sah dem Fahrer in die Augen, der ähnlich erschrocken schien wie er selbst. Er hob die Hand zu einer Entschuldigung und ging mit zittrigen Beinen weiter. Was gäbe er jetzt für eine Zigarette … was hatte sich da eben abgespielt, in Bergmanns Zimmer? Eine seltsame Aufführung, die Schäfer Angst machte. Es passierten Dinge, die sich seiner Kontrolle entzogen. Er selbst unter dem Einfluss von Neuroleptika, die ihn stark veränderten … zum Positiven, keine Frage … wenn er außer Acht ließ, dass er sich als Nichtpolizist in den letzten Wochen wegen Körperverletzung, Sachbeschädigung, gefährlicher Drohung und Beleidigung hätte verantworten müssen. Und jetzt sein Assistent, der anfing, sich wie Schäfer verhalten zu wollen; der ihm, vollgepumpt mit Schmerzmitteln, etwas von organischer Verschmelzung erzählte. Lösten die Medikamente möglicherweise die Begrenzung ihres Bewusstseins auf? Stand jetzt ein Seelentausch bevor, wie man ihn aus diversen Filmen kannte? Blödsinn, versuchte Schäfer sich zu beruhigen, es passierte einfach viel. Es passierte viel, das er nicht kontrollieren konnte.
20.
Nachdem er über eine Stunde planlos im Internet gesurft hatte, fiel Schäfer plötzlich ein Wort aus dem Physikunterricht ein: Entropie, das war es. Ein System, dem keine Energie zugeführt wird, verfällt in Unordnung. Und genau so ging es seinem Kopf: unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen, einen geraden Satz zu schreiben, sich länger als ein paar Minuten auf einen Sachverhalt zu konzentrieren. Ich bin richtig entropisch heute, sagte er schmunzelnd in Richtung von Bergmanns leerem Stuhl; und jetzt fange ich auch noch an, mit meinem abwesenden Assistenten zu reden. Wie er diesem Zustand beikommen sollte, wusste er nicht. Gab es denn keine Putzfrau, die das Chaos da oben aufräumen konnte? Noch mehr Tabletten schlucken? Er stand auf und nahm Schreyers Elektronikkatalog aus dem Regal. Versuchte, sich in die Beschreibung einer energieneutralen Serverkühlanlage zu vertiefen – ohne Erfolg. Also rief er Kovacs zu sich, von deren disziplinierter und ehrgeiziger Arbeitsweise er sich ein wenig Energie abzuzapfen hoffte.
„Nun, Frau Kollegin, gibt’s was Neues?“, empfing er sie.
„Ja … wir haben einen Zeugen, der vermutlich den Täter gesehen hat. Ein Trafikant, der früher bei uns war. Er hat uns eine genaue Beschreibung einer männlichen Person gegeben, die er in den letzten Tagen mehrmals in der Gegend gesehen hat. Und sie deckt sich mit Ihrer Beschreibung.“
„Was ist mit dem Gesicht? Gibt’s schon ein Phantombild?“
„Er kommt kurz nach sechs zu uns. Er hat niemanden, der ihn in der Trafik vertritt, und weil er ohnehin so hilfsbereit war, wollte ich nicht …“
„Schon gut, ich mache Ihnen keinen Vorwurf … was sagen die Nachbarn?“
„Das Paar unter ihm hat Lärm gehört … er hat geschrien und irgendetwas umgeworfen … aber das dürfte häufig passiert sein, also haben sie sich nichts dabei gedacht …“
„Schön, schön … ähm … ja … wissen Sie, was Schreyer gerade treibt?“
„Nicht genau … Sie haben ihn eingeteilt, Akten durchzusehen …“
„Ach ja, der Überfall auf die Tankstelle … gut … Bergmann hat gestern übrigens dahingehend spekuliert, dass Kanika Müller doch nicht so
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