Der Bestatter: Thriller (Christian Beyer-Reihe)
zugemacht«, meinte Pete bitter.
Christian sagte nichts, obwohl er der gleichen Meinung war. Er
fragte sich nur, wie und warum so etwas möglich war. Wie konnte eine Mutter das
Kind, das sie selbst geboren hatte, den widerlichen Schmutzgriffeln der
Päderasten ausliefern? Das Schlimme war, daß Christian die Antwort wußte. Doch
die war so einfach, so billig, daß er davor verstummte.
Pete aber mußte reden, es schien, als wolle er das Elend mit seinem
Wissen darüber in den Griff kriegen: »Pädophile suchen sich die Kinder sehr
genau aus. Alleinstehende Mütter aus unteren Schichten sind ein beliebtes Ziel.
Armut. Brüchige soziale Netzwerke. Diesen Kindern fehlt Zuneigung,
Aufmerksamkeit, Anerkennung. Sie haben meist wenig Selbstvertrauen und wenige
Freunde. Perfekte Opfer, leicht zu manipulieren. Genau wie ihre naiven Mütter,
die froh sind, wenn sich einer kümmert, oder wenn sie nicht ganz so naiv sind,
zumindest bewußt oder unbewußt wegsehen, um einen kleinen Vorteil für sich zu
erwirtschaften. Wetten, daß der charmante Herbert die Heidi nur gepimpert hat,
um an ihren Sohn ranzukommen?«
»Eine beschissene Welt«, stimmte Volker zu, »Heidi tut mir leid. So
mies wie die sich jetzt fühlt, soviel kann sie gar nicht saufen.«
Mit der letzten Maschine landeten sie wieder in Hamburg.
Die Tatortarbeit in Elversberg und die Zeugenbefragungen konnten sie ihren
Saarbrücker Kollegen überlassen, die sich schon am Wochenende als engagiert und
zuverlässig erwiesen hatten. Und die DNS-Analyse würde noch dauern.
Pete lehnte das halbherzige Angebot von Christian, ihn mit dem
Dienstwagen zu seinem Hotel zu bringen, dankend ab. Er nahm sich ein Taxi und
war froh, in die gepflegte Anonymität seiner Übergangsbleibe eintauchen zu
können. Er duschte, zog ein frisches Hemd an, warf sich aufs Bett und zappte
durch die Programme. Doch er konnte sich auf nichts konzentrieren, die
Nachrichten langweilten ihn ebenso wie die im Privatfernsehen detailliert
beschriebene Brustvergrößerung einer 16jährigen Pfälzerin. Er schloß seinen
Laptop an und recherchierte Annas Adresse. Zwar fühlte er sich völlig
erschlagen von seinem ersten Arbeitstag, doch er verspürte plötzlich das
dringende Bedürfnis nach etwas menschlicher Wärme. Oder einer guten Nummer zum
Abreagieren. Bei Anna hatte er Chancen auf beides. Er nahm eine Flasche
Champagner aus der Minibar und fuhr zu ihr.
»Woher weißt du, wo ich wohne?« fragte sie verblüfft, als er im
Türrahmen stand.
»Ich bin Polizist. Schon vergessen?« gab er zurück.
Anna fiel auf, wie müde Pete aussah. Sie öffnete die Tür und ließ
ihn ein.
Der Mann, der Pete vom Hotel aus gefolgt war und nun gemächlich über
die Straße schlenderte, um Annas Praxisschild am Eingang zu studieren, fiel
ihnen nicht auf.
Als Christian an diesem Abend völlig erledigt von den
Anstrengungen der letzten Tage nach Hause kam, sah er zuerst auf den
Anrufbeantworter, der auf einer alten Weichholzkommode im Flur stand. Niemand
hatte versucht, ihn zu erreichen. In allabendlicher Routine legte Christian
seinen Schlüsselbund und den Inhalt seiner ausgebeulten Cordsakkotaschen auf
die Kommode: Portemonnaie, Klappmesser, Kugelschreiber, eine Briefmarke, zwei
Hustenbonbons, davon eins angelutscht, Streichhölzer, ein paar lose Münzen und
die zerknitterte Fotografie einer Angelhütte in Island, wo er nach
erfolgreichem Abschluß des Falls hinfahren wollte, um in der Einsamkeit
ungestört Zeit und Mücken totzuschlagen.
Er ging ins Schlafzimmer und zog sich im Dämmerlicht aus. Die
Vorhänge waren zugezogen, seit er am Freitag morgen die Wohnung verlassen
hatte. Achtlos warf er seine Klamotten in die Ecke, begab sich ins Bad und
duschte kalt, den Strahl auf hart gestellt. Die Wasserperlen ließ er auf der
Haut trocknen, um den Kühlungseffekt zu verlängern, er schlenderte in die
Küche, hinterließ dabei nasse Abdrücke auf dem Parkett und nahm eine Flasche
Wodka aus dem Kühlschrank. Geübt goß er zwei Fingerbreit in ein großes
Wasserglas und ließ zwei Eiswürfel hineinklingeln. Der erste Schluck rann ihm,
ohne zu brennen, die Kehle hinunter und markierte den langersehnten Übergang in
den Feierabend.
Christian lebte in einem Eckhaus im Eppendorfer Weg. Sein Wohnzimmer
befand sich ganz oben, genau auf der Ecke, und war mit seiner großzügigen
halbrunden Verglasung das Highlight des Drei-Zimmer-Apartments. Mit dem Glas in
der Hand ging Christian zu seinem Ausguck. Das Licht ließ er aus. Er
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