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Der Beutegaenger

Titel: Der Beutegaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silvia Roth
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diese Gedichte den Täter? In derRomantik hätte man für eine Frau wie Marianne Siemssen Gedichte geschrieben, fuhr es ihm durch den Sinn. Und Klavierstücke. »Überprüfen Sie das«, sagte er und gab ihr den Zettel wieder zurück. »Auch wenn ich nicht die leiseste Ahnung habe, was es bedeuten soll.«
    Winnie Heller nickte.
    Im selben Augenblick klingelte das Telefon. Verhoeven nahm ab und hörte eine Weile aufmerksam zu. »Man hat Gegenstände aus Isolde Reisingers Wohnung auf einem Rastplatz an der A 3 gefunden, ungefähr hundertvierzig Kilometer südlich von hier«, sagte er, nachdem er aufgelegt hatte. »Ich fahre hin und sehe mir an, was die Kollegen entdeckt haben.«
    »Soll ich Sie begleiten?«, fragte Winnie Heller.
    Verhoeven nahm seinen Mantel vom Haken. »Nicht nötig. Aber rufen Sie diesen Mann mit den Gedichten an. Ich will wissen, was er gemeint hat.«
     
     
     
    Alois Breidstettner war unruhig. Wieder und wieder hatte er den Artikel über die Morde gelesen. Jedes einzelne Wort hatte er sich genau angesehen, akribisch genau, als sei den knappen, reißerischen Zeilen vielleicht doch noch ein Geheimnis zu entlocken, wenn man sich nur lange genug mit ihnen beschäftigte.
    Drei tote Frauen ...
    Er blickte zum Fenster hinaus in den fahlen Novembermorgen. Gegenüber brannte hier und da noch Licht. In der Bauchhöhle der ersten Toten hatte man eine Chrysantheme gefunden. Dem zweiten Opfer waren die Augen ausgestochen worden. Außerdem hatte man bei der Leiche Blumensamen entdeckt, Mohn. Aber was war mit der dritten Frau?
    Über diesen Mord war nichts Näheres erwähnt. Nur, dass die ältere Dame in ihrer Wohnung erschlagen worden war. Wenn dieser Mord mit den beiden anderen im Zusammenhang stand, konnte das unmöglich alles sein. Aber warum war dann nichts über die Ratten geschrieben worden? Hielt die Polizei etwas zurück? Der Autor des Artikels behauptete das. Aber warum nur in diesem einen Fall? Waren Ratten denn tatsächlich so viel schrecklicher als Blumen? Und die ausgestochenen Augen hatten sie doch auch zugegeben.
    Oder gab es gar keine Ratten?
    Alois Breidstettner nahm seine Lesebrille ab und sah wieder zum Fenster hinaus. Auf der anderen Seite des Hinterhofes saß eine schmächtige junge Frau über ihre Nähmaschine gebeugt. Der Mörder würde nicht grundlos von seinem Konzept abweichen. Oder irrte er sich? Gab es gar kein Konzept? War das alles nur ein dummer Zufall und die Gedichte auf dem mauvefarbenen Briefbogen tatsächlich so harmlos, wie er immer gehofft hatte? Nur eine Schwärmerei . Eine harmlose Phase in der Pubertät. Schließlich hatte der arme Junge doch so früh seine Mutter verloren. Da steigerte man sich vielleicht nur allzu leicht in etwas hinein.
    Sehen Sie sich die Tinte an , forderte eine aufgebrachte Stimme in seinem Kopf. Er hat diesen Dreck mit Blut geschrieben. Er ist gefährlich.
    Alois Breidstettner nahm einen Schluck von seinem Kaffee, der ihm nicht schmeckte, und schüttelte nachdenklich den Kopf. Seine linke Hand zitterte heute besonders stark. Schnell stellte er den Kaffeebecher wieder auf dem Küchentisch ab. Er musste unbedingt noch einmal im Präsidium anrufen und sich erkundigen, ob man bei der dritten Frau die Ratten gefunden hatte. Erst dann würde er wieder schlafen können. Erst dann konnte er ganz sicher sein, dass die Sache tatsächlich ungefährlich gewesen war, damals. Mit einer entschlossenen Bewegungschob er den Artikel von sich und griff nach seinem Stock. Aber zuerst würde er hinunter zum Briefkasten gehen und die Zeitungen heraufholen. Vielleicht enthielten sie neue Informationen, beruhigende Informationen. Vielleicht ersparten sie ihm den Anruf, vor dem er sich so sehr fürchtete.
    Unter erheblichen Mühen verließ er die Wohnung. Die Krankheit machte ihm heute besonders zu schaffen. Schon die Türschwelle bedeutete ein beinahe unüberwindliches Hindernis, einen heimtückischen, gefährlichen Stolperstein. Alois Breidstettner seufzte. Die Medikamente brauchten immer länger, bis sie wirkten, und die Wirkung ließ immer schneller nach. Die Phasen, in denen er nach seinen Wünschen leben konnte, wurden immer kürzer. Er wusste, eines nicht mehr allzu fernen Tages würden sie ganz verschwunden sein.
    Als er eben die Wohnungstür hinter sich zugezogen hatte, hörte er drinnen im Flur das Telefon läuten. Er blieb stehen und blickte sich unschlüssig um. Bis er zurück beim Apparat war, würde das Klingeln längst aufgehört haben.
    Er verharrte auf

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