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Der Beutegaenger

Titel: Der Beutegaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silvia Roth
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dem Treppenabsatz vor seiner Wohnung und lauschte dem Läuten des Telefons nach, das nicht aufhören zu wollen schien und erst nach einer Zeit, die ihm unendlich lang vorkam, verstummte. Dann begann er, langsam und vorsichtig die Treppen hinabzusteigen.

Schief! Alles war schief. Das ganze Bild verzerrt, kaputt, entstellt, obwohl er alles richtig gemacht hatte. Das war es, was ihn am meisten ärgerte. Dass er alles richtig gemacht hatte und irgendetwas trotzdem schiefgelaufen war.
    Seine Finger umschlossen das Lenkrad so fest, dass die Knöchel weiß hervortraten.
    Selbst im Tod versuchte diese verfluchte Alte noch, ihm einen Strich durch die Rechnung zu machen. Durch sie bekamen die Dinge einen völlig falschen Akzent, ausgerechnet jetzt, wo es endlich so weit war, dass sie von ihm Notiz nahmen. Er hatte den Artikel gelesen. Er musste rasch handeln. Den falschen Eindruck korrigieren.
    Manchmal war man im Leben gezwungen, seine Pläne zu ändern.
    Im Rückspiegel sah er, wie sich die Schranke an der Einfahrt hinter ihm schloss. Er lenkte den Wagen auf den Parkplatz, der für ihn reserviert war, und kurbelte das Seitenfenster herunter. Sofort drang die abgestandene Tiefgaragenluft herein. Er lehnte sich zurück und atmete ein paarMal tief durch. Schweiß rann an seinem Rücken hinunter, und er fragte sich, wann er das letzte Mal gefroren hatte. Aber er konnte sich nicht erinnern.
    Aus der Brusttasche seines Jacketts zog er die Liste. Vier Namen standen darauf. Neben jedem Namen ein Datum und eine Adresse, dazu kleine Hinweise zu Ort und Zeit, günstige Gelegenheiten.
    Die Liste war im Grunde überflüssig. Er kannte alles auswendig. Schon lange.
    Hinter dem letzten Namen war nichts vermerkt. Dieser Name war eingekreist. Wie die Person, zu der er gehörte. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und zog einen Kugelschreiber und ein Lineal aus seinem Aktenkoffer. Die ersten beiden Namen auf der Liste waren durchgestrichen. Das Datum hinter dem dritten Namen lautete: 7. Dezember 2006. Sorgfältig legte er das Lineal an und löschte das Datum mit einem sauberen Strich aus.
    Die Abstände waren mit Bedacht gewählt. Dienstreisen. Nicht zu schnell hintereinander. Er wollte ihre Angst dehnen, sich vorstellen, wie ihr bewusst wurde, dass sich alle paar Wochen der Kreis um sie ein wenig enger schloss, sie vielleicht sogar so weit bringen, dass sie wieder davonlief. Doch jetzt ging es um etwas anderes. Möglicherweise hatten die Todesumstände der Alten sie beruhigt. Vielleicht war sie dadurch sogar in der Lage, sich einzureden, alles sei nur ein seltsamer Zufall. Das würde er auf keinen Fall dulden!
    In großen, ordentlichen Zahlen schrieb er ein neues Datum neben den dritten Namen:
    20. November 2006.
    Manchmal war man im Leben gezwungen, seine Pläne zu ändern.
    20. November. Er starrte auf die erste Zahl hinunter, die er geschrieben hatte. Eigentlich wäre dieser Termin aufgrund des Seminars gar nicht möglich gewesen. Es wäre ihm nie gelungen, rechtzeitig genug aus dem Büro wegzukommen, um Anna-Lena Kluger abholen zu können. Aber nun wusste er ja, dass das Seminar »Verkaufsstrategien im Versandhandel« nicht stattfinden würde.
    Uwe Dierck würde leider verhindert sein.
    Seine Frau war sehr zuverlässig in diesen Dingen. Sie hatte ihm die Grüße ausgerichtet, gestern Morgen, nachdem sie sich wieder ein wenig beruhigt hatte. Er schnalzte mit der Zunge und schüttelte bedauernd den Kopf. Dierck hätte sich eben nicht mit seinem alten Schulfreund verabreden sollen . . .

Es war ein Gefühl, als seien seine Füße von einer Sekunde zur anderen mit der Treppenstufe verwachsen.
    Obwohl er nun schon so viele Jahre mit der Krankheit lebte, wurde Alois Breidstettner noch immer von jenen Momenten urplötzlicher Bewegungsunfähigkeit überrascht, die die parkinsonsche Krankheit mit sich brachte. Sie kündigten sich nicht an, diese Momente. Sie waren einfach da und nagelten seine Füße an den Treppenabsatz, auf den Teppich, auf die Straße, den Asphalt. Und jeder Versuch, den in Starre gefangenen Körper durch Willenskraft voranzubringen, machte alles nur noch schlimmer.
    Seine Augen suchten das Treppengeländer. Dahinter gähnte, einem düsteren Abgrund gleich, der lichtlose Lichtschacht über den alten Mosaiken. Vier Treppen lagen noch vor ihm. Stufen, die sich von Monat zu Monat zu vermehren schienen. Irgendwann, das wusste er, würden es zu viele werden. Irgendwann würde er umziehen müssen. Noch einmal umziehen. Ein

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