Der Beutegaenger
wieder jene tiefe Müdigkeit, die ihm Sorge bereitete. Kein Zweifel, seine Kräfte stießen allmählich an eine Grenze, und er fragte sich, ob das jetzt immer so weiterging. Würde seine Arbeit, würde die Verantwortung, die er trug, ihn so in Anspruch nehmen, dass es ihm eines Tages zu viel sein würde, nach Dienstschluss noch eine Weile mit seiner Tochter zu spielen? Er dachte an Grovius’ gescheiterte Beziehungen. Wie lange würde Silvie es ertragen, mit einem Mann verheiratet zu sein, der den Ballast seines Jobs mit nach Hause brachte? Wie lange durften die viel beschworenen »schlechten Zeiten« dauern, bevor die Belastung zu groß wurde, bevor eine Beziehung trotz aller Bemühungen um gegenseitiges Verständnis und Rücksichtnahme in die Brüche ging? Das darf mir nie passieren, dachte er. Meine Familie darf niemals zu kurz kommen. Sie ist meine einzige Rückzugsmöglichkeit. Das Einzige, womit ich mich gegen Fälle wie diesen wappnen kann.
Als er gerade aufbrechen wollte, rief Bredeney an. »Was Neues über die Siemssen?«, fragte Verhoeven.
»Sie ist blütenweiß und unauffällig.«
»Nicht mal ein Ticket wegen Falschparkens?«
»Nicht einmal das. Allerdings ist letzten August in ihrem Studio eingebrochen worden. Zwar stellte sich später heraus, dass nichts gestohlen worden war, aber sie hat es gemeldet.« »Die Siemssen hat einen Einbruch gemeldet, bei dem nichts gestohlen wurde?«, resümierte Verhoeven ungläubig. »Es war nur die Vordertür aufgebrochen worden.« »Sonst nichts?«
»Sonst nichts.«
»Und wann genau war das?«
Er zögerte kurz. »Am 14. August 2005.«
Verhoeven notierte sich das Datum.
»Glaubst du, dass diese Sache mit unserer Mordserie zu tun hat?«, fragte Bredeney.
»Zumindest laufen etliche Spuren in diesem Studio zusammen.« Mit der freien Hand betastete Verhoeven seine Unterlippe, die sich anfühlte, als ob er Herpes bekäme. Wenn wir nur nachweisen könnten, dass auch Susanne Leistner eine Verbindung zu Marianne Siemssen hatte, dachte er. Er hatte in den letzten Tagen mehrfach bei Gernot Leistner angerufen, ihn jedoch nie erreicht. Ob er verreist war? Er nahm das Handy in die andere Hand und stieg in den Wagen. »Wenn die Leistner die Siemssen gekannt hätte ...«
»Pass auf, dass du dich da nicht verrennst«, mahnte Bredeneys knisternde Stimme.
»Die Siemssen hat vor irgendetwas Angst«, entgegnete Verhoeven. »Und wenn du mich fragst, ist sie eine Frau, die einen sehr guten Grund braucht, um Angst zu haben.«
Nachdem er aufgelegt hatte, blieb er eine Weile im Auto sitzen. Untätig und erschöpft. Als ihm einfiel, dass die Kollegen vor Ort sich darüber wundern könnten, fuhr er los. Auf der Rückfahrt hörte er Mahler. Das ausladende Finale der zweiten Symphonie mit seiner Vertonung von Klopstocks Hymne Die Auferstehung . Während er auf die Fahrbahn vor sich starrte und der Musik lauschte, dachte er an Silvies Behauptung, Mahler sei gefährlich für seinen Seelenfrieden und überdies zu sehr auf vordergründige Effekte bedacht. Er tastete nach rechts und drehte den Ton lauter, doch nach ein paar Minuten hatte er genug. Stattdessen suchte er im Radio nach einem Klassiksender. Als er einen gefunden hatte, bemühte er sich eine Weile vergeblich, den Komponisten des Stückes zu erraten, das gerade gespielt wurde. IrgendetwasBarockes. Aber keinesfalls Bach. Vom Stil her eher leicht und heiter, vielleicht italienisch. Er überlegte, aber ihm wollte kein passender Komponist einfallen. Schließlich drückte er erneut auf den Sendersuchlauf und blieb bei den Nachrichten zur halben Stunde hängen. Als sie vorbei waren, schaltete er das Radio ab.
Er überprüfte noch einmal den Knoten, mit dem er den Sack zugebunden hatte.
Wie sehr er das Geräusch der kleinen Füßchen hasste, die an dem rauen Jutestoff kratzten. Er konnte ihre huschenden Bewegungen durch den Stoff fühlen. Die Wärme ihrer kleinen Körper. Selbst noch durch die zwei Paar Latexhandschuhe, die er trug.
Die Verkäuferin in der Zoohandlung hatte ihn ganz merkwürdig angesehen, als er gesagt hatte, er nehme sie alle.
Er warf einen flüchtigen Blick hinüber zum anderen Ufer des Sees.
Sicher, er brauchte sie erst am Montagabend. Aber er wusste auch, dass er tagsüber keine Gelegenheit haben würde, welche zu besorgen. Auch nicht am Wochenende. Und sie hielten sich lange genug. Sie mussten ja nicht im allerbesten Zustand sein, wenn man sie fand. Das waren die Mäuse ja auch nicht...
Nachdem er
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