Der Beutegaenger
darauf bestanden, bei einer Vernehmung anwesend zu sein, oder Beweismittel zurückhielten – wann immer sie mit solchen Situationen konfrontiert worden waren, hatte Grovius die Sache mit Souveränität und, wenn nötig, auch mit unlauteren Mitteln gemeistert. Ohne mit der Wimper zu zucken, hatte er Fehlinformationengestreut und falsche Uhrzeiten genannt, und er hatte sich diebisch gefreut, wann immer er sich und seinen Leuten auf diese Weise einen Vorteil verschafft hatte. Verhoeven sah in den Garten hinaus und fragte sich, warum er das dringende Gefühl hatte, dass ihm ein solches Verhalten nicht durchgehen würde. Vielleicht, weil er ein anderer Typ war. Einer, dem man charmante Gewitztheit einfach nicht abnahm. Seine Maske war die Gleichgültigkeit, und er wusste, dass er im Großen und Ganzen einen unnahbaren, bisweilen sogar arroganten Eindruck machte. Manchmal spürte er, wenn sich jemand in seiner Umgebung verletzt oder zurückgestoßen fühlte. Aber das störte ihn nicht weiter. Alles war besser, als die Unsicherheit zu zeigen, die er empfand. Seine Blicke wanderten wieder zu Winnie Heller, und er fragte sich, was für ein Bild sie sich in den vergangenen Stunden von ihm gemacht haben mochte. Als sie merkte, dass er sie ansah, hob sie den Kopf.
Im selben Moment kehrte Gernot Leistner mit einem schwarzen Kalenderbuch zurück. Er hatte bereits die entsprechende Seite aufgeschlagen und wies, indem er Verhoeven das Buch über den Couchtisch reichte, auf einen Eintrag in der Spalte des gestrigen Tages. »Susanne ist in der Mittagspause beim Friseur gewesen«, sagte er. »Das ist alles.«
Winnie Heller rutschte ein Stück näher heran, um an Verhoevens Schulter vorbei blicken zu können. Die Notiz lautete: 12:45 Uhr, Armin.
»Ist das der Name des Friseurs?«, fragte Verhoeven.
Gernot Leistner nickte. »Armin Gebroth. Es ist ein ziemlich teurer Salon, gleich gegenüber vom Altenheim. Susanne geht schon seit Jahren dorthin, weil sie auf diese Weise ihre Termine in der Mittagspause erledigen kann.«
Verhoeven machte sich eine entsprechende Notiz, während seine Kollegin ziellos in dem Kalenderbuch der Ermordeten blätterte.
»Haben Sie etwas dagegen, wenn wir das mitnehmen?« »Nein, natürlich nicht. Wenn Sie glauben, dass es Ihnen von Nutzen ist.«
Winnie Heller antwortete nicht, sondern ließ den Kalender wortlos in ihrer groß dimensionierten Umhängetasche verschwinden. »Sagen Sie«, wandte sie sich dann wieder an Susanne Leistners Witwer, »fühlte sich Ihre Frau in letzter Zeit durch irgendetwas bedroht?«
»Bedroht?« Gernot Leistner blickte sie ungläubig an. »Warum, um Himmels willen, sollte sie sich bedroht gefühlt haben?«
»Wenn wir davon ausgehen, dass sie ihrem Mörder nicht durch Zufall in die Hände gefallen ist, wäre es immerhin möglich, dass er ihr schon vorher einmal zu nahe getreten ist«, erklärte Verhoeven. »Deshalb überlegen Sie bitte noch einmal ganz genau: Hatte Ihre Frau vielleicht Bekannte, vor denen sie sich fürchtete?«
»Nein.«
Verhoeven hatte den Eindruck, dass Leistner sich ziemlich sicher war, was das betraf. Aber was hieß das schon? »Und in der Zeit vor Ihrer Ehe?«
»Nicht, dass ich wüsste.« Er stutzte. »Ist Susanne eigentlich ... Ich meine, gab es Spuren von . . . ?«
Verhoeven schüttelte den Kopf, obwohl er wusste, dass seine Antwort verfrüht war. Ein sexueller Missbrauch konnte erst nach einer eingehenden Untersuchung mit Sicherheit ausgeschlossen werden. Wenn er sich irrte, würde er in Schwierigkeiten stecken. Er sah es an dem Blick, mit dem Winnie Heller ihn bedachte und in dem etwas Lauerndes lag. Ich muss mich vorsehen, dachte er. Ab heute muss ich aufpassen, was ich sage.
»Auch nicht einvernehmlich?«
»Bitte?«
Gernot Leistners Augen saugten sich in seinem Gesicht fest, und erst jetzt begriff Verhoeven, was der andere meinte. Er sprach von der Bankrotterklärung seiner Ehe. »Ich weiß es nicht«, sagte er, froh, dass diese Antwort zum jetzigen Zeitpunkt tatsächlich der Wahrheit entsprach.
»Hat Ihre Frau Sie betrogen?« Die Art, wie Winnie Heller fragte, ließ keinen Zweifel daran, dass sie die Antwort bereits zu kennen glaubte.
Susanne Leistners Witwer wandte den Kopf. »Nein.« »Nie?«
»Nein.«
»Sind Sie sicher?«
»Das ist nicht wichtig«, sagte er. »Nicht in diesem Zusammenhang.«
»Alles ist wichtig«, entgegnete Winnie Heller lapidar.
»Wir wären Ihnen sehr dankbar, wenn Sie uns so schnell wie möglich eine Liste der
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