Der Beutegaenger
Leute machen könnten, mit denen Ihre Frau regelmäßig zu tun hatte«, sagte Verhoeven, der sich über den Tonfall ärgerte, den seine junge Kollegin anschlug. »Sie wissen schon: Freunde, Bekannte, Kollegen.«
Gernot Leistner nickte. Er sah müde und überfordert aus.
»Und wenn Ihnen sonst noch irgendetwas einfällt, rufen Sie uns bitte sofort an.« Verhoeven zog eine der Visitenkarten, auf denen neben seinem Dienstrang und der Adresse des Präsidiums auch seine Durchwahl vermerkt war, aus der Tasche und legte sie auf den Tisch. Dann stand er auf. Winnie Heller folgte seinem Beispiel.
Susanne Leistners Witwer blieb zusammengesunken in seinem Sessel sitzen und starrte auf den alten Parkettboden hinunter. Seine Tochter hatte sich indessen unbemerkt von ihrer Decke erhoben. Zielstrebig kam sie durch den Raum und legte ein gelbes Holzbauklötzchen auf den Tisch neben Verhoevens Visitenkarte. Dann ging sie zu ihrem Vater undhielt sich mit beiden Händen an seinem Knie fest. Die Besucher beachtete sie nicht.
»Wir finden allein raus«, sagte Verhoeven und verließ das Zimmer.
Sie hielten auf dem Besucherparkplatz des Altenheims, direkt hinter einem Transporter, der Lebensmittel anlieferte. Aus den Fenstern der Großküche quoll ein penetranter Essensgeruch, und Winnie Heller musste unwillkürlich an das Pflegeheim denken, in dem ihre Schwester untergebracht war. Dort, in diesen widerlich hellgelb und grün gestrichenen Fluren, stand zu jeder erdenklichen Tageszeit ein solcher Geruch wie eine unsichtbare Mauer, um sie schmerzlich daran zu erinnern, dass Elli seit über sieben Jahren nicht mehr anständig gegessen hatte und stattdessen irgendeine obskure Nährlösung erhielt, die vermutlich nicht einmal einen Eigengeschmack hatte. Zu Anfang hatte sie ein paar Versuche mit Pizza und Elsässer Flammkuchen, Ellis Lieblingsgericht, unternommen, in der Hoffnung, dass der vertraute Duft ihre Schwester dazu motivieren würde, die Augen zu öffnen und etwas wie »Mann, habe ich einen Hunger« zu flüstern. Aber es hatte nicht funktioniert, und Winnie Heller hasste den Essensgeruch, der dem Pflegeheim anhaftete, seither umso mehr. Dabei wollte es ihr selbst nach all den Jahren, die sie nun schon in dem Gebäude ein und aus ging, nicht einmal gelingen, diesen Geruch näher zu definieren oder ihm gar etwas wie konkrete Nahrungsmittel zuzuordnen. Er war, im Gegenteil, wie eines dieser modernen Denkmale, die plötzlich irgendwo auftauchten und von denen niemand so recht zu wissen schien, was sie eigentlichdarstellten. Trotzdem gewöhnte man sich an sie und nahm sie, nachdem man ihnen ein paar Mal begegnet war, als gegeben hin, ohne ihrer Bedeutung auch nur im Entferntesten auf die Spur gekommen zu sein.
Sie zog ihre Sonnenbrille aus der Tasche und blickte an der einfallslos gestalteten Fassade des Altenheims hinauf. In den Fensterscheiben blitzte die Sonne. Der Haupteingang an der Schmalseite des Gebäudes hatte eine Automatiktür. Gegenüber lag eine exklusive Wohnanlage. Im Erdgeschoss befand sich der Frisiersalon, in dem Susanne Leistner am Vortag einen Termin gehabt hatte.
»Lassen Sie uns mit dem Friseur reden, bevor wir die Kollegen von der Leistner befragen«, entschied Verhoeven und überquerte die Straße.
»Von hier aus wäre es ziemlich schwierig, den Parkplatz oder auch nur den Eingang des Heims zu beobachten, ohne aufzufallen«, bemerkte Winnie Heller, als sie auf der anderen Seite waren.
»Stimmt«, räumte Verhoeven ein. »Aber der Parkplatz selbst bietet recht gute Möglichkeiten, finden Sie nicht?« Er zog die Eingangstür des Salons auf und ließ seiner Kollegin den Vortritt. Sogleich kündigte eine sanfte Glocke ihr Kommen an. Neben der Anmeldung plätscherte ein Zimmerspringbrunnen. Aus dem Hintergrund war dezente Musik zu hören. Ein Violinkonzert von Mozart.
Eine hübsche junge Frau mit kunstvoll verwuscheltem Blondschopf unterbrach ihre Arbeit an der schütteren Mähne ihrer gelangweilten Kundin und kam freundlich lächelnd auf sie zu. »Was kann ich für Sie tun?«
Verhoeven zog zum dritten Mal an diesem Tag seinen Dienstausweis aus der Tasche. »Wir hätten gern Herrn Gebroth gesprochen.«
»Das ist im Augenblick leider nicht möglich«, entgegnetedie Friseurin nicht übermäßig bedauernd. »Herr Gebroth ist bei einem Wettbewerb in Hamburg.«
Verhoeven tauschte einen Blick mit Winnie Heller. »Seit wann?«
»Soweit ich weiß, ist er am Montag nach Ladenschluss losgefahren«,
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