Der Beutegaenger
dachte Verhoeven.
»Sie finden sie im Verwaltungsbüro auf dieser Etage. Den Gang entlang und dann die letzte Tür links.«
Verhoeven erhob sich. »Vielen Dank, das wäre im Augenblick alles. Wenn wir noch weitere Fragen haben, melden wir uns.«
»Sie können mich jederzeit anrufen«, versicherte die Verwaltungsdirektorin, indem sie eine Visitenkarte aus der obersten Schublade ihres Schreibtisches nahm. »Hier steht auch meine private Telefonnummer.« Sie stand ebenfalls auf und reichte zunächst Winnie Heller und dann Verhoeven die Hand. »Ich bedaure wirklich sehr, dass ich Ihnen sowenig helfen konnte.«
Auf dem Flur vor dem Verwaltungsbüro stand ein Getränkeautomat. Verhoeven blieb stehen und suchte die Taschen seines Jacketts nach Münzen ab. Als er keine fand, zog er sein Portemonnaie aus der Hosentasche. »Möchten Sie auch einen?«, fragte er, nachdem er Geld eingeworfen und den Button Kaffee weiß gedrückt hatte.
Winnie Heller schüttelte den Kopf und warf einen flüchtigen Blick auf das Foto, das vorn in seiner Brieftasche steckte. Eine blonde Frau und ein Kind. Sein Kind. Seine Tochter. Auf dem Weg zu Hinnrichs hatte sie einen kurzen, neugierigen Blick in Verhoevens Büro geworfen, das von heute an auchdas ihre sein würde, und verwundert festgestellt, dass auf seinem Schreibtisch keinerlei Fotos standen. Keine Minigalerie des Glücks, die andere teilhaben ließ an Geburtstagsfeiern und Grillabenden, an der generalstabsmäßig durchorganisierten Traumhochzeit, den Flitterwochen unter Palmen und am ersten Schneidezahn des gemeinsamen Kindes. Nicht einmal ein schlichtes Porträtfoto seiner Frau in einem eleganten Silberrahmen, das gleich in doppelter Hinsicht von seinem guten Geschmack zeugte. Im Gegenteil: Da schien etwas zu sein, das er für sich behielt, eine Reserve. Seine Privatadresse hatte er ihr auf einen hastig aus einem Notizblock gerissenen Zettel gekritzelt. Ebenso die Handynummer. Ja, dachte sie, das war die zweite Seltsamkeit: dass er keine privaten Visitenkarten besaß. Er stand nicht einmal im Telefonbuch, wie sie bereits herausgefunden hatte. Wahrscheinlich gehörte er zu den Menschen, die entschlossen sind, ihr Glück auf jede erdenkliche Weise zu beschützen. Solchen, die einen Burggraben um ihre Privatsphäre ziehen, je tiefer, je besser. Wenn man denn etwas hätte, das sich zu schützen lohnt, dachte sie bitter.
»Sind Sie sicher, dass Sie nicht doch einen Kaffee möchten?« Verhoeven hielt ihr seinen dampfenden Plastikbecher hin. »Dem Geruch nach scheint er gar nicht so übel zu sein.«
»Lieber nicht, danke.«
»Keine Laster?«
Sie lächelte ein wenig gezwungen. »Müsliriegel.«
»Ich sprach von Lastern.«
»Die Dosis macht das Gift«, konterte sie. »Heißt es nicht so?«
Sein Blick streifte ihr Gesicht. »Tut mir leid, dass Ihr Einstieg bei uns ein so drastischer ist«, sagte er, als ihm das Schweigen zwischen ihnen zu unbequem wurde. »Bei mir hat es damals fast zwei Wochen gedauert, bis es das erste Mal sorichtig zur Sache ging, und es war nichts gegen das von heute früh.«
Sie sah hoch. Was sollte das jetzt werden? Ein harmloses Geplänkel unter Kollegen zum besseren Kennenlernen? Pflichtschuldige Konversation mit einer Untergebenen? Oder sondierte er insgeheim ihre Schwachstellen? Sie dachte voller Unbehagen an die Fragen, die ihr die Prüfungskommission des Auswahlverfahrens gestellt hatte. Fragen, die einzig und allein darauf abzielten, etwas in ihr bloßzulegen. Ein Manko aufzudecken. Scheiß drauf!, dachte sie. Ich habe alles richtig gemacht. Verhoeven kann mir gar nichts. »Kein Problem«, entgegnete sie leichthin. »Sie wissen doch, was man über den Sprung ins kalte Wasser sagt: je kälter, je besser.«
»Tja.« In seinem Lächeln lag ein Anflug von Melancholie. »Da haben Sie wahrscheinlich recht.« Er trank seinen Kaffee in großen, hastigen Schlucken, und sie konnte deutlich sehen, dass er sich fast den Gaumen dabei verbrannte. Es amüsierte sie. Wahrscheinlich hatte er bereits kurz nach dem Einwerfen seiner Münzen bedauert, dass er sich und ihr diese unbequeme Kaffeepause auferlegt hatte.
Als er fertig war, warf er den leeren Becher in den Papierkorb neben dem Automaten. »Können wir?«
Sie nickte. »Sicher.«
Im Büro der Verwaltung saß Monika Gerling an ihrem Schreibtisch und versuchte erst gar nicht, den Anschein zu erwecken, als habe sie gearbeitet. Sie saß einfach nur da und blickte den beiden Kommissaren mit unverhohlenem Interesse
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