Der Beutegaenger
die Aussicht ins Tal zu genießen. Die Stelle war dafür gänzlich ungeeignet, und außerdem war es bereits seit mehr als drei Stunden dunkel. Unschlüssig blickte sich diealte Dame noch einmal in alle Richtungen um. Sollte sie einfach weitergehen? Selbst auf die Gefahr hin, dass jemand ihre Hilfe brauchte?
Der Weg, der vor ihr lag, war schlecht beleuchtet. Wahrscheinlich war schon wieder eine der Laternen ausgefallen. Nur hier und da schimmerte bleiches Mondlicht durch die kahlen Baumkronen, in denen der Westwind rauschte. Ein erhabenes Geräusch, das Isolde Reisinger für einen Augenblick von allen anderen Gedanken ablenkte. Sie sah wieder nach oben und entdeckte ein paar vereinzelte Sterne, die fahl wirkten im Widerschein der Großstadtlichter, der aus dem dicht besiedelten Tal heraufdrang. Sie blinzelte, als eine Windbö ihr ein wenig Staub ins Gesicht fegte, und wünschte sich sehnlichst, an einem Ort zu sein, an dem ihr nichts den Blick in den Himmel versperrte. Auf einem Feld vielleicht oder am Meer. Als sie jung gewesen waren, hatten ihr Mann und sie im Urlaub manchmal in den Dünen von Spiekeroog übernachtet und sich dabei unendlich frei und verwegen gefühlt. Die silbrige Weite des Meeres, die klare Luft, die niemals völlig unbewegt war und sanft ihre Körper umschmeichelte. Und darüber die Sterne wie gestochen. Die Erinnerung entlockte ihr ein leises Lächeln. Sie dachte nicht viel an den Tod, sie wollte sich auf keinen Fall mit ihm infizieren, so wie andere Frauen ihres Alters, die über die Beschäftigung mit den eigenen Gebrechen immer egomanischer und ängstlicher wurden, aber wenn sie doch einmal ans Sterben dachte, dachte sie seltsamerweise immer an jene Nächte am Meer, in denen sie beide auf ihrer dünnen Baumwolldecke im Sand gelegen und die Sterne betrachtet hatten. Das ist meine Vorstellung vom Paradies, dachte sie. Frei sein und in die Sterne schauen ...
Sie fuhr leise zusammen. Der Wind schien urplötzlich kälter geworden zu sein. In den Büschen etwas seitwärts knackte ein Zweig. Es war kein lautes Geräusch, nicht einmal einunerwartetes, aber es löste etwas in ihr aus, das sie nicht deuten konnte. Da war ein rotes Lämpchen, das zu leuchten begann, irgendwo tief in ihr. Eine Alarmglocke. Ihre Augen wanderten zu dem mysteriösen Damenfahrrad zurück, und sie empfand mit einem Mal Wut. Wut auf sich selbst, weil sie nicht auf ihre Freundin gehört und sich ein Taxi gerufen hatte. Törichtes altes Weib, dachte sie. Du bist zu alt und zu langsam, um allein durch die Dunkelheit zu stolpern. Und mit diesem Fahrrad stimmte etwas nicht, so viel stand fest. Irgendwo hier, ganz in ihrer Nähe, war etwas, das ihr Herz schneller schlagen ließ, etwas Unheimliches, Dunkles. Etwas, dem sie unbedingt entgehen musste.
Entschlossen drehte sie sich um und ging den Hang hinunter. Einen Fuß vor den anderen. Nach Hause. So schnell sie konnte, aber nicht zu schnell. Sie musste achtgeben. Nicht stolpern. Bloß nicht. Inder Düsternis zu ihren Füßen lauerten gefährliche Unebenheiten. Und sie durfte auf gar keinen Fall stürzen. Nicht hier. Nicht so weit von den nächsten Häusern entfernt. Denk an die Dünen, dachte sie. Lenk dich ab. Es ist ja nicht mehr weit. Nur noch drei Kehren. Dann hast du es überstanden. Dann bist du in Sicherheit.
Die Dunkelheit um sie herum vertiefte sich. Unter ihren Schuhsohlen knirschte etwas, das wie zerbrochenes Glas klang. Doch sie wagte nicht, stehen zu bleiben. Sehen konnte sie ohnehin nicht viel. Von Zeit zu Zeit blickte sie über ihre Schulter zurück, aber da war niemand, der ihr folgte. Keine aus der Finsternis heraneilende Unbekannte auf einem Fahrrad. Kein Schatten. Niemand. Nur das Rauschen des Windes und das Geräusch ihrer Schritte. Trotzdem wurde ihr Herzschlag erst wieder ruhiger, als sie den Platz vor der Kirche erreichte. Durch die Rollläden der umstehenden Häuser sickerte warmes, beruhigendes Licht. Überall hinter diesen Rollläden waren Menschen. Menschen, die fernsahen, strittenoder eine späte Mahlzeit zu sich nahmen. Isolde Reisinger seufzte erleichtert auf. Nächsten Montag würde sie auf ihre alte Freundin hören und sich ein Taxi nehmen!
Sie wollte sich gerade nach links wenden, wo in einer ruhigen Seitenstraße das Haus lag, in dem sie seit über zwanzig Jahren eine kleine Mietwohnung bewohnte, als sie die Katze entdeckte. Sie war wunderschön grauweiß gezeichnet, mit weißen Pfötchen und hellem Brustfleck, und strich auf der
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