Der Beutegaenger
hinführen mochte. Ob er irgendwann einfach endete? Und wo? Sie war diesen Weg niemals zuvor gegangen. Wege hatten in ihren Träumen bislang keine Rolle gespielt. War das nicht seltsam?
Sie konnte sich nicht entscheiden und ging schneller.
Vor ihr, in einiger Entfernung, lag ein Haus. Nein, nicht ein Haus, das Haus. Es wirkte heruntergekommen, ein weiteres Indiz dafür, dass sie träumte. Die hübsch gestrichenen Fensterläden, auf die Tante Louise immer so stolz gewesen und von denen die Farbe nun beinahe komplett abgeblättert war, hingen schief in den verrosteten Angeln. Und rechts die Tür. Sie war offen. Natürlich. Sie war immer offen. Dahinter gähnende Düsternis. Sie wollte sich umdrehen, dahin zurücklaufen, woher sie gekommen war, auch wenn sie sich nicht erinnern konnte, wo das war, aber es war alles in allem ein eher halbherziger Versuch, der erwartungsgemäß bereits ein paar Meter weiter im undurchdringlichen Dickicht endete. Weglaufen funktionierte nur im wahren Leben. Einer der Gründe, warum sie so ungern schlief. Schicksalsergeben kehrte sie um. Sie kannte ihre Träume zu gut und zu lange, um nicht zu wissen, dass es kein Entrinnen gab.
Das Haus vor ihr wurde größer. Reduzierte sich auf den gähnenden Türrahmen, hinter dem sie bereits die Treppe erkennen konnte. Vertraute Bilder, endlich. Und so schrecklich sie auch waren, nahm sie sie fast erleichtert zur Kenntnis.
Ich träumte, ich sei wieder in Manderley.
Obwohl sie genau wusste, was jetzt kam, fühlte sie eine dumpfe Beklommenheit, als sie über die Schwelle trat. Dann kam die Angst. Eine große, allumfassende Angst, die sie ansprang, plötzlich, wie ein Tiger. Von hinten, dachte sie, halb bewusst, halb im Traum. Immer von hinten. Tiger schauen ihren Opfern niemals direkt in die Augen. Im Gegenteil:Wenn du eine Maske trägst, irgendein stilisiertes Gesicht auf deinem Hinterkopf, greifen sie dich nicht an. Ich habe auch hinten Augen , ruft ihre Mutter ihr aus der Dunkelheit des Dickichts zu und lacht, als sie vor lauter Schreck die Keksdose fallen lässt. Eine Maske, denkt sie. Zwei Gesichter. Janusköpfig.
Sie schaut hinter sich . Mama?
Sie ist nicht da, natürlich nicht. Sie ist gestorben, ohne dass sie einander noch einmal gesehen hätten. Nicht gewagt, zum Begräbnis zu gehen ... Kein Mut ... Der Gedanke und die Trauer, die ihm innewohnt, verlöscht in ihrem Unterbewusstsein, lange bevor sie Gelegenheit hat, ihn zu Ende zu denken. Dafür ist das Haus vertauscht, als sie sich wieder umdreht. Nun ist es der Bungalow. Der, in dem sie augenblicklich wohnt. Schläft. Träumt. Hier, denkt sie. Zu Hause. Vorübergehend ...
Sie wundert sich nicht über den Schlüssel in ihrer Hand, sondern schließt einfach die Tür auf. Diele. Briefschlitz. Extraschlösser. Ist das nicht gut? Bedeutet das nicht, dass es vorbei ist? Schon viele Jahre vorbei? Es ist niemals vorbei , pocht es hinter ihrer Stirn. Es ist eine Falle . Durch den Spion sieht sie den Schatten. Gebückt huscht er auf die Tür zu. Ihre Tür. Ein Mann, eindeutig. Blond, eigenartigerweise, nicht dunkel. Dabei nicht allzu groß. Austrainiert. Fit. In wachsender Panik legt sie die Sicherheitskette vor. Schlüssel nach rechts. Wieder nach links, nur zur Probe. Dann wieder rechts, bis sie es endlich glaubt, glaubt, dass es tatsächlich keinen Spielraum gibt. Dass sie es geschafft hat. Dass die Tür zu ist. Verschlossen. Dicht.
Ins Wohnzimmer, denkt sie. Die Terrassentür überprüfen. Doch als sie den Raum betreten will, sieht sie den Schatten an der Wand. Seinen Schatten. Er ist im Haus . Die Erkenntnis lähmt sie. Sie hat sich zusammen mit ihm eingesperrt und ...
Sie schreckte hoch. Ihr Herz flatterte in ihrem Brustkorb wie ein eingesperrtes Tier und pumpte das Blut in Blitzgeschwindigkeit durch ihre Adern, die fast barsten vor Druck. Mit einem leisen Stöhnen richtete sie sich auf und strich sich erschöpft die schweißnassen Haare aus der Stirn. Auch ihr Nachthemd war vollkommen durchnässt und klebte an ihrem Körper wie eine zweite Haut.
Er ist hier. Hier im Haus. Bei dir ...
Nein! Sie schüttelte energisch den Kopf, um auch noch die letzten bedrängenden Bilder des Traums aus ihren Gedanken zu vertreiben. Er war nicht hier. Er konnte nicht hier sein. Vor dem Schlafengehen hatte sie ihren üblichen Kontrollgang absolviert. Dreimal täglich Schränke, Türen, Fenster. Alles dicht. Was immer im Traum möglich war, es funktionierte nicht in der Realität.
Nach und nach begann
Weitere Kostenlose Bücher