Der Beutegaenger
sich nun auch ihre Umgebung zu strukturieren. Zumindest akustisch. Sie nahm Wind wahr, einen kräftigen Westwind, der direkt auf ihrem Schlafzimmerfenster lag und einen neuen Tiefausläufer ankündigte. Die Rollläden klapperten unter seiner Wucht, obwohl sie sie wie immer bis zum Anschlag heruntergelassen hatte. Kein Spielraum, keine Ritze, die vielleicht ein wenig Mondlicht hereingelassen hätte. Die nächsten Straßenlaternen standen ohnehin zu weit entfernt. Auf dem Nachtschrank neben ihr tickte der Wecker. Ein mechanischer. Digitale Zahlen, die sie unvermittelt aus der Dunkelheit heraus anblitzen konnten, ertrug sie nicht, auch wenn das ewige Geticke dicht an ihrem Kopf sie nervte. Zeit, die ablief. Ihr Leben, das zerrann. Manchmal steh ich auf, mitten in der Nacht, und lass die Uhren alle, alle stehn ...
Sie schwang die Beine aus dem Bett und stolperte Richtung Fenster. Unter ihren nackten Füßen fühlte sie den Bettvorleger. Wo er endete, war der Schrank. Sehen konnte sie nichts.
Das Zimmer um sie herum war stockfinster. In ihrem Kopf wogte das Blut. Warm und druckvoll schien es mit jedem Schlag ihres Herzens ein Stückchen höher zu steigen. Wenn es das Trommelfell erreicht, bin ich taub, dachte sie, und fast kam es ihr vor, als müsse sie sich darüber freuen. Wie war das noch gleich? Nicht hören, nicht sehen, nicht fühlen. Drei Affen in einer Person. Ihre Schultern erbebten unter dem Lachen, das aus den Tiefen ihres Körpers heraufdrang.
Zugleich schienen die Wände ringsum auf sie zuzukriechen. Immer wärmer, immer enger. Wechselj ahrsbeschwerden, spottete ihr Verstand. Du wirst alt. Eine alte, einsame Frau. Das ist es, was er aus dir gemacht hat. Was du aus dir gemacht hast. Du hast dich in dich selbst zurückgesperrt. Du wolltest ihm zuvorkommen, und vor lauter Angst, dass er dir wehtut, kannst du nicht aufhören, dich selbst zu verletzen. Das ist deine Form von Selbstbestimmung. Die einzige, die er dir übrig gelassen hat. Er ist ein guter Lehrmeister gewesen. Du denkst wie er. Du fühlst wie er. Er ist in dich hineingeschlüpft und kontrolliert dein Leben. Ganz, wie es ihm gefällt.
Denk darüber nach.
Um sie herum wurde die Luft immer dicker. Wattig. Zäh. Dann roch sie das Blut. Es war frisch. Der metallische Geruch legte sich wie ein unsichtbarer Film auf ihre Haut und drohte ihre Poren zu verstopfen. Das Gefühl von akuter Luftnot verstärkte sich. Instinktiv griff sie nach ihrer Kehle. Ein Asthmaanfall vielleicht. Der erste seit Langem. In der Schublade ihres Nachtschranks lag eine Packung mit Cortisontabletten. Für den Notfall. Sie wusste, dass sich nur noch drei Tabletten in dem zerknickten Blisterstreifen befanden, und sie war entschlossen, diese nur zu nehmen, wenn es gar nicht anders ging. Wenn sie zu ersticken drohte. Wirklich zu ersticken. Wenn die Tabletten alle waren, würde sie zu einem Arzt gehenmüssen. Vor ihrem inneren Auge erschien eine dieser Rezeptionen, die überall gleich aussahen. Dahinter die Arzthelferin. Geschäftig. Lächelnd. Indiskret.
Stimmt denn die Adresse noch?
Sie hört sich antworten. Ein hastiges Ja, alles beim Alten , bevor die Angestellte auf die Idee kommt, laut vorzulesen, was sie auf ihrem Computermonitor sehen kann.
Und Ihre Telefonnummer ist die 76834 ...
Stopp! Aufhören! Halten Sie endlich Ihre gottverdammte Fresse!
Bitte?
Nichts. . . Ich wollte nur... Sie strafft sich. Versucht, souverän auszusehen. Souverän selbst noch im tiefsten Elend. Ja, die Nummer ist noch die gleiche.
Sie leckte sich über die trockenen Lippen und stellte erleichtert fest, dass ihr Atem sich etwas beruhigt hatte. Kein Rasseln mehr in ihren Bronchien. Kein Gefühl der Beklemmung. Des Erstickens. Und drei gerettete Tabletten im Nachtschrank. Wenn das nicht ein glorreicher Abend war!
Sie ließ die Hand, die noch immer auf ihrer Kehle lag, sinken und lauschte wieder in die Stille des Bungalows. Kein Laut, nur der Westwind, der mit ungebrochener Gewalt an den Rollläden rüttelte. Es spitzt sich zu, dachte sie, und erst mit einer gewissen Verzögerung wurde ihr klar, dass sie tatsächlich den Klimawandel meinte. Die Erderwärmung. Herbststürme von ungewohnter Heftigkeit über dem sonst so milden und sonnenverwöhnten Rheingau. Sie dachte an die Weinreben, die noch nicht abgeerntet waren. Die auf den Frost warteten. Den besonderen Eisweingeschmack. Kein Zweifel, ihr Hirn war Weltmeister darin, sich auf alles zu stürzen, das man als Ablenkung begreifen konnte. Ihre
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