Der Beutegaenger
gegenüberliegenden Seite des Platzes zwischen den geparkten Autos herum. Isolde Reisinger lächelte. Solange sie denken konnte, hatte sie Katzen gehabt. Katzen hatten zu ihrem Leben gehört wie die Tageszeitung und die jährlichen Urlaube am Meer, aber nachdem ihre letzte Gefährtin im biblischen Alter von achtzehneinhalb Jahren gestorben war und sie das Haus verkauft hatte, das ihr nach dem Tod ihres Mannes riesengroß und fürchterlich einsam vorgekommen war, hatte sie sich keine mehr angeschafft. Katzen liebten die Freiheit, genau wie sie selbst, und sie brachte es einfach nicht übers Herz, einem dieser Tiere ein Leben in der langweiligen Enge einer Mietwohnung aufzuzwingen, nur um selbst ein wenig Gesellschaft zu haben. Und Kratzbäume und Plüschmäuse waren nun einmal ein erbärmlicher Ersatz für den freien Blick in die Sterne, da machte sie sich nichts vor.
Sie überquerte die Straße und sprach die Katze mit sanfter Stimme an. Das Tier hielt mitten in einer Bewegung inne und wandte ihr den Kopf zu. Dann kam es zögernd ein paar Schritte näher. Isolde Reisinger bückte sich und streckte die Hand aus, doch die Katze sprang weg und verkroch sich scheu unter einem der Autos.
»Du brauchst doch keine Angst zu haben«, flüsterte Isolde Reisinger, als ihr die großen grünen Augen durch die Dunkelheit entgegenfunkelten. Sie beugte sich noch weiter hinunter und versuchte das Tier anzulocken, doch als sie es beinahegeschafft hatte, fuhr ein Auto vorbei und erschreckte die Katze aufs Neue, sodass sie aus ihrem Versteck geschossen kam und mit anmutigen Bewegungen in einem der Vorgärten verschwand.
Isolde Reisinger blickte ihr nach, bis sie nicht mehr zu sehen war.
Als sie sich umdrehte, sah sie eine Frau auf den Platz vor der Kirche treten. Sie kam von der Alten Stiege her, und Isolde Reisinger wollte schon auf sie zugehen und sie auf das merkwürdige Fahrrad ansprechen, aber irgendetwas hielt sie zurück.
Die fremde Frau ging auf der anderen Straßenseite und hatte die alte Dame noch nicht bemerkt. Jetzt zog sie einen Autoschlüssel aus der Tasche ihres Trenchcoats.
Isolde Reisinger erstarrte. Das war keine Frau! Die langen blonden Haare hatten sie getäuscht. Wieso nur ließ man sich immer von derart vordergründigen Merkmalen leiten? Die blonden Haare gehörten zu einer Perücke. Doch das Gesicht unter dieser Perücke war ohne jeden Zweifel das Gesicht eines Mannes.
Und genau in diesem Augenblick blickte das Gesicht zu ihr herüber.
Er stieg in seinen Wagen und startete den Motor. Im Rückspiegel konnte er die Alte sehen. Sie entfernte sich langsam, ohne sich umzublicken. Oh nein, sie sah sich nicht nach ihm um. Nicht ein einziges Mal. Dazu war sie viel zu schlau.
Sie hatte ihm in die Augen gesehen und dann schnell, aber nicht zu schnell, den Blick wieder abgewandt. Ohne erkennbare Hast war sie einfach weitergegangen. Als ob nichts geschehen wäre. Wie klug von ihr! Aber sie hatte es gesehen . Er hatte in ihren Augen gelesen, dass sie es gesehen hatte. Für den Augenblick hatte es sie nur verwundert. Vielleicht auch ein wenig erschreckt. Aber wenn man Tamara Borg fand, würde sie zu deuten beginnen, was sie gesehen hatte. Sie würde sich der Bedeutung ihrer Beobachtung bewusst werden und die Polizei anrufen. Vielleicht gar ein Kennzeichen nennen.
Oh ja, sie war klug. Ganz so wie Tante Louise.
Und genauso gefährlich.
Hinter ihm hallten ihre Schritte auf dem Bürgersteig. Aber das konnte auch Einbildung sein, einander überlagernde Zeitachsen. Frauen ihres Alters trugen keine Schuhe, die Lärm machten.
Er parkte den Wagen hinter der nächsten Ecke und stieg aus. Aus dem Erste-Hilfe-Kasten im Kofferraum nahm er ein Paar Latexhandschuhe. Vorschrift in Zeiten von Aids und anderen Unwägbarkeiten. Vollkommen unauffällig. Selbst wenn man mehrere Paar dabei hatte, galt man allenfalls als überängstlich. Er streifte die Handschuhe über und riss die Verpackung eines weiteren Paares auf.
Dann ging er langsam zurück.
Sie träumte. Sie ging einen Weg entlang, ein Pfad mehr, kaum einen Meter breit. Links neben ihr befand sich ein kleiner Bachlauf, von dem sie selbst im Schlaf wusste, dass sie ihn noch nie gesehen hatte, rechts wucherte dichtes Gestrüpp, das krank aussah. Verwahrlost. Es kroch ihren nackten Füßen entgegen, krallte seine dornigen Ranken in ihre Hosenbeine undschnellte zischend zurück, als sie sich gewaltsam losmachte. Im Gehen überlegte sie, wo der Weg
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