Der Bilderwächter (German Edition)
Mühe, Arme und Beine zu bewegen. In den Fingern und Zehen spürte er stechende Schmerzen. Nicht mehr lange, und er würde sich Frostbeulen holen.
Was, zum Teufel, machte er hier?
Stand wie ein Minnesänger unter dem Fenster seiner Angebeteten und litt tausend Tode, weil sie unerreichbar war.
Er streifte die Handschuhe ab, klemmte sie unter den Arm und versuchte, die Finger mit seinem Atem zu wärmen. Lief ein paar Schritte in den Hofgarten hinein und trabte langsam wieder zurück. Zog sich die Mütze vorsichtig ein Stück tiefer über die Ohren, die zu kaltem Glas geworden waren.
Ilka.
Allein ihren Namen zu denken, machte ihn glücklich.
Er sah sie vor sich. Ihr schmales Gesicht. Ihr zurückhaltendes Lächeln. Das prächtige rote Haar. Ihre braunen Augen, die so verletzlich wirkten.
Etwas an ihr war so, dass er ständig das Bedürfnis verspürte, sie zu beschützen.
Dabei war sie durchaus in der Lage, auf sich selbst aufzupassen. Marten hatte selten ein selbstbewussteres Mädchen kennengelernt.
Vielleicht war es diese Widersprüchlichkeit gewesen, die ihn angezogen hatte.
Seelenverwandt, dachte er, lächelte und merkte, wie spröde sich seine Lippen anfühlten. Er kam mit dieser aggressiven Winterluft nicht zurecht.
Mit tauben Fingern griff er in die Tasche seiner Jacke und zog den Labello hervor. Erst beim dritten Anlauf gelang es ihm, die Kappe abzuziehen, den Stift nach oben zu drehen und sich über die Lippen zu fahren. Ebenso lange brauchte er, um ihn wieder in der Tasche zu verstauen.
» Warum mache ich mir eigentlich so einen Stress?«, fragte er sich laut. » Dieser Mike ist doch kein Gegner für mich. Er sieht Ilka die ganze Woche nicht. Aber ich bin hier. Und ich kann warten.«
Er zog die Handschuhe wieder an, warf einen letzten Blick zu Ilkas Fenstern hinauf und wandte sich zum Gehen.
Man konnte Eifersucht besiegen. Indem man sich nicht zum Opfer machen ließ.
Er sah auf seine Uhr.
Mittag.
Er würde etwas essen und sich dann bei Professor Kokar entschuldigen. Sein Nachmittagsseminar besuchen und anschließend ins Fitnessstudio gehen. Eine Stunde Krafttraining war genau das Richtige, um ihn auf andere Gedanken zu bringen.
Und ihm das Vertrauen in seinen Körper und seinen Geist zurückzugeben.
Auf dem Weg zur Mensa tauten seine Glieder wieder auf und die ganze Zeit tanzte Ilkas Name in seinem Kopf.
*
Emilia Ritter trat ans Fenster, zog die Gardine beiseite und schaute hinaus. Die Kirchturmuhr im Ort hatte eben zwölf Mal geschlagen. Das bedeutete, dass der Mann Rubens Haus gleich verlassen würde, um irgendwo zu Mittag zu essen. Danach würde er wiederkommen und sich für den Rest des Nachmittags mit Rubens Bildern beschäftigen.
Was auch immer genau er dort tun mochte.
Emilia hatte sich das schon oft gefragt. Machte er lediglich eine Bestandsaufnahme? Zählte und katalogisierte er die Bilder? Bereitete er sie für Ausstellungen vor?
Die Frist, die Ruben in seinem Testament gesetzt hatte, war vorüber.
Und Rubens Haus?
Sie hatten gewusst, dass dieser Tag kommen würde. Dass die Bilder nicht ewig bei ihnen bleiben würden. Dennoch hatten sie ein Haus für sie bauen lassen. Hortense und sie – endlich waren sie einmal einer Meinung gewesen.
Niemand hatte sich darüber gewundert, dass sie das kleine Gebäude auf ihrem Anwesen hatten errichten lassen. Zumindest war Emilia nichts dergleichen zu Ohren gekommen. Die Leute hielten sie beide ohnedies für verrückt, da wurde geradezu erwartet, dass sie sich auch so benahmen.
Emilia kicherte leise. Sie hielt sich die Hand vor den Mund. Doch gleich wurde sie wieder ernst.
» Wenn es nach mir ginge, Ruben, würde niemand deine Werke anrühren.«
Ab und zu redete sie mit sich selbst. Oder mit den Gespenstern ihres langen Lebens. Diese Gespräche waren Teil ihres Alltags geworden. Solange sie mit den Toten sprach, hatte sie sie nicht ganz und gar verloren.
» Ach, Ruben«, seufzte sie.
Ruben brauchte keine Erklärungen. Er verstand sie auch so.
Die Bilder waren Teil von ihm, und es war nicht richtig, sie auseinanderzureißen und über die Welt zu verstreuen. Denn genau das würde passieren. Rubens schrecklicher Tod hatte seinen Marktwert noch gesteigert.
So waren die Menschen. Es ging immer nur um Geld.
Hortense würde sie jetzt daran erinnern, dass es der Reichtum war, der den Schwestern das sorglose Leben ermöglicht hatte, das sie immer noch führten. Dass sie auch Rubens Haus nur hatten bauen lassen können, weil sie mehr Geld
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