Der Bilderwächter (German Edition)
erklärte, welche Rolle Ruben ihm zugedacht hatte.
Außer ihnen beiden war niemand geladen worden, denn Ruben hatte Ilka zu seiner Alleinerbin bestimmt. Seinen Freund Thorsten hatte er dazu auserkoren, seinen künstlerischen Nachlass zu verwalten. Gleichzeitig hatte er festgesetzt, dass eine Frist von zwei Jahren verstreichen sollte, bis dieser eröffnet würde.
Zwei Jahre, hatte Ilka damals in der trockenen Luft des aufgeheizten kleinen Büros gedacht. Eine lange Zeit.
Sie war dankbar gewesen für den Aufschub, hatte ihn genutzt, um wieder auf die Beine zu kommen. Körper und Geist gesunden zu lassen.
Und vor allem: zu vergessen.
Es zumindest zu versuchen.
Doch nun war es so weit, wie Mike gesagt hatte.
Die Vergangenheit holte sie ein. Sie konnte den Kopf nicht länger in den Sand stecken.
Ruben hatte vorausschauend dafür gesorgt, dass seine Bilder überleben würden. Er hatte den einzigen Menschen dazu auserkoren, dem er in künstlerischen Fragen vertraute. Einen Maler, der gleichzeitig sein Freund gewesen war. Mit dem er sich zu Beginn seiner Laufbahn sogar ein Atelier geteilt hatte.
Ilka hatte das erst bei der Testamentseröffnung erfahren. Als sie nach dem Tod des Vaters und der Heimunterbringung der Mutter beschlossen hatte, Ruben zu verlassen und bei Tante Marei und Onkel Knut einzuziehen, hatte sie ihrem bisherigen Leben konsequent den Rücken gekehrt.
Dann, während Ruben sie, Jahre später, in einem einsam gelegenen Haus gefangen gehalten hatte, waren andere Dinge wichtiger gewesen als die Frage, wie er die Zeit seit ihrer Trennung verbracht hatte.
Ilka spürte, wie sich jedes einzelne ihrer Haare aufstellte.
Sie wollte nicht mehr daran denken.
Nicht an die Ängste, die sie verfolgt, und nicht an die Schmerzen, die sie gequält hatten.
Erst recht nicht daran, dass der Preis für ihre Freiheit Rubens Tod gewesen war.
» Wenn wir uns sehen, werde ich dir einen Brief aushändigen, den Ruben dir geschrieben hat. Er war, zusammen mit anderen Unterlagen, die sein künstlerisches Werk betreffen, bei einem Notar hinterlegt.«
Mike hatte den Brief wieder aufgenommen und den letzten Absatz laut gelesen. Er hob den Kopf. War er blass geworden oder lag es am grauen Winterlicht, das vor den Fenstern stand?
Wahrscheinlich begriff er den Sinn der Worte erst jetzt.
» Willst du dir das wirklich antun?«, fragte er. » Einen Brief von … ihm zu lesen?«
Ilka durfte gar nicht daran denken.
» Sag, willst du das?«
Ob sie das wollte? Was fragte er da? Glaubte er allen Ernstes, es ginge hier um das, was sie wollte oder nicht wollte? Es ging um so viel mehr. Es ging um alles. Aber wie sollte sie ihm das erklären?
Wie sollte sie ihm Gefühle schildern, die sie lähmten und so sehr in Angst versetzten, dass ihr das Atmen schwerfiel?
» Wir wussten doch beide, dass ich nicht mein Leben lang weglaufen kann«, sagte sie leise. » Die letzten beiden Jahre waren eine Illusion.«
Es war, als fiele ein Schatten auf Mikes Gesicht.
» Ich meine nicht das zwischen dir und mir«, erklärte Ilka schnell. » Ich meine das Gefühl der Sicherheit, das ich immer häufiger empfunden habe.«
Sie hatte angefangen, sich beinah unbeschwert durch den Alltag zu bewegen. Jedenfalls hin und wieder. Ihre Albträume waren weniger geworden, und wenn sie in der Nacht doch schweißgebadet aus einem hochgeschreckt war, hatte Mike schlaftrunken den Arm nach ihr ausgestreckt und sie an sich gezogen.
Seine Nähe. Seine Wärme. Sein Vertrauen.
Seine Stärke.
Und die ganze Zeit über hatte sie nicht geahnt, dass es einen Brief von Ruben gab, der wie ein Fallbeil über ihnen schwebte.
Ihn zu lesen, würde bedeuten, seine Stimme wieder zu hören. Sie wie ein Gift in sich einsickern zu lassen.
Der Macht ausgeliefert zu sein, die er so lange über sie gehabt hatte.
Ilkas Augen brannten. Sie massierte sich die Schläfen, um den Schmerz zu vertreiben, bevor er in ihrem Kopf zu einer Migräne heranwachsen konnte.
Mike stand auf und trat auf sie zu. Er beugte sich zu ihr hinunter und nahm sie in die Arme.
Panisch machte sie sich von ihm los und sprang auf.
Wich an die Wand zurück, ohne ihn aus den Augen zu lassen.
Keine Nähe jetzt.
Nicht angefasst werden.
Atmen. Ruhig und gleichmäßig.
Während sie nach Luft rang, eine Hand an der Kehle, die andere abwehrend ausgestreckt, fragte sie sich, ob sie den Ausdruck auf Mikes Gesicht jemals vergessen würde.
*
Allmählich verwandelte Marten sich in einen Eisblock. Es bereitete ihm
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