Der Bilderwächter (German Edition)
Werkstatt zurück, um seine Frustration an einem der alten Möbelstücke abzuarbeiten.
» Blödmann!«, rief Merle ihm nach und knallte verärgert den Kugelschreiber auf den Tisch. Doch das reichte noch nicht aus, um ihre Wut runterzufahren, und so wischte sie mit dem Arm über den Tisch und fegte ihre Aufzeichnungen zu Boden.
Die Katzen, die einträchtig auf dem Sofa geschlafen hatten, hoben erstaunt den Kopf. Sie waren sturmerprobt. Nur Klecks, der erst seit wenigen Monaten bei uns lebte und noch schwer an seinen schlimmen Erfahrungen zu tragen hatte, schoss in heller Panik aus dem Zimmer.
» Mike hat das nicht so gemeint«, sagte ich, obwohl ich selbst ein bisschen erschrocken war.
» Ich weiß.«
Merle blickte betroffen zur Tür, in der stillen Hoffnung, der Kater werde zurückkommen.
Doch das würde dauern. Jeder Schock warf ihn um Wochen zurück.
Wir hatten noch eine Weile am Tisch gesessen, ohne viel zu reden. Dann waren auch wir ins Bett gegangen.
Und da lag ich nun, unfähig, auch nur die Augen zu schließen. Schließlich stand ich auf und trat ans Fenster.
Niemand hatte daran gedacht, die Außenlampe auszuschalten. Ihr Licht hob pudrige weiße Äste und Zweige aus der Dunkelheit und ich konnte alte Katzenspuren auf der gefrorenen Schneedecke erkennen.
Alles sah still und friedlich aus.
Doch das war es nicht.
Ich stieg in meine Sachen, die ich auf dem Schreibtischstuhl abgelegt hatte, und tappte über den Flur zu Ilkas Zimmer. Leise klopfte ich an ihre Tür.
» Ja?«
Wie dünn ihre Stimme klang und wie ängstlich.
Ich drückte die Klinke runter, huschte auf Zehenspitzen hinein und schloss die Tür wieder hinter mir.
» Jette …«
Ich sah, dass sie geweint hatte, hob die Hand und wischte ihr die Tränen mit den Fingerkuppen ab.
» Bleibst du bei mir?«, fragte sie.
Es hörte sich so kläglich an, dass ich gar nicht anders konnte, als ihr den Gefallen zu tun.
Ich schlüpfte zu ihr unter die Bettdecke.
Sie ließ den Kopf an meine Schulter sinken und schlief augenblicklich ein.
*
Ruben streckte ihr die Hand hin.
» Komm!«, rief er und lachte. » Hab keine Angst!«
Zwischen ihnen tobte ein Bach, aus dessen tosendem Wasser ein paar große, runde, glatte Steine ragten. Ruben hatte sie benutzt wie einen Weg, war vom einen zum andern gesprungen und sicher am gegenüberliegenden Ufer angekommen.
» Nun mach schon!«, rief er. » Ich hab nicht ewig Zeit.«
Nein. Die hatte er nicht, denn er war tot.
Jedenfalls hatte Ilka das geglaubt.
Bis jetzt.
Sie wusste aber schon lange, dass sie sich auf ihre Eindrücke nicht verlassen konnte.
Ein flacher Schatten schlängelte sich durch das Wasser, knapp unter der Oberfläche und dicht an ihren Füßen vorbei, die nackt waren, denn es war Sommer und so heiß, dass das Gras am Uferrand ihre Fußsohlen angenehm kühlte.
Erschrocken sprang sie zurück.
» Kommst du? Oder muss ich dich holen?«
Ilka hörte erste Anzeichen von Zorn in Rubens Stimme. Sie fing an zu zittern.
» Ich hab Angst«, flüsterte sie, und auch wenn der wilde Bach nicht einen solchen Lärm gemacht hätte, wären ihre Worte nicht bis zu Ruben vorgedrungen. Angst, dachte sie. Fürchterliche Angst.
Bitte, Ruben, lass mich hier bleiben …
Sie wollte nicht zu ihm, seine ausgestreckte Hand nicht packen. Wollte nicht, dass er sie an sich zog, lachend und so, als habe er jedes Recht der Welt dazu. Sie wollte auch nicht, dass er seine Lippen auf ihre presste und mit der Zunge von ihrem Mund Besitz ergriff. Wollte seinen Körper nicht spüren, seinen Speichel nicht schmecken und seinen Duft nicht einatmen.
Das alles hatte ihr einmal so sehr gefallen, dass ihr schwindlig geworden war vor Glück. Sie hatte Ruben so heftig begehrt, dass ihr bei seinem Anblick die Knie weich geworden waren.
Aber es war falsch gewesen, falsch, falsch, falsch, und niemals konnte aus etwas Falschem das Richtige werden. Nie.
Sie stand da und sah ihm über das brausende Wasser hinweg in die Augen. Sein Blick hielt ihren fest und ließ ihn nicht los. Der Ausdruck in seinem Gesicht machte ihr noch mehr Angst und die Beine drohten unter ihrem Gewicht nachzugeben.
In ihrem Kopf wuchs ein Name, den sie las wie ein Gedicht, wie etwas, das ihr Hoffnung machte, die einzige, die es für sie gab.
Mike.
Als hätte Ruben das auf die Entfernung gespürt, nahm er Anlauf und kam über die Steine zu ihr zurück.
» Nein!«, rief sie und brachte ihn damit zum Straucheln. Er glitt von dem größten der Steine ab und
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