Der Bilderwächter (German Edition)
den sein durch den unterbrochenen Schlaf übersensibilisierter Körper mit Totalstarre reagierte.
Auf den Scheiben seines Wagens hatte sich Eis gebildet, gegen das Bert mit dem Kratzer kaum etwas ausrichten konnte. Als er schließlich losfuhr, war nur eine einzige, etwa handtellergroße Stelle an der Windschutzscheibe wirklich frei, und er saß in gebückter Haltung hinterm Steuer und starrte angestrengt durch dieses kleine Loch hinaus.
Köln schlief bereits, was selten war bei dieser lebendigen Stadt, die Bert mehr und mehr in ihren Bann zog. Wahrscheinlich lag es an der Kälte, die den Atem vor den Lippen erstarren ließ und einem jede Lust nahm, auch nur eine Minute länger als nötig draußen zu verweilen.
Umso besser. So kam er schnell voran.
Die Belüftung der Windschutzscheibe machte einen Höllenlärm. Als wäre es nicht schon kalt genug, blies sie Wirbel eisiger Luft ins Wageninnere. Bert betätigte immer wieder die Scheibenwischer, doch sie schrappten wirkungslos über die Eisschicht. Die Heizung brauchte neuerdings immer länger, bis sie ansprang. Selbst in den Handschuhen froren Bert die Finger ab.
Er fuhr die Innere Kanalstraße entlang und überquerte den Rhein über die Zoobrücke, als sei er auf dem Weg zur Arbeit, was in gewisser Weise ja auch stimmte. Die Oranienstraße lag nur einen Katzensprung vom Polizeipräsidium entfernt. Bert fand einen Parkplatz hinter Ricks Wagen, der bereits auf einem Seitenstreifen abgestellt war.
Es passierte nicht oft, dass Rick einen Leichenfundort vor ihm erreichte. Vielleicht war er noch gar nicht im Bett gewesen. Er hatte Bert einmal erzählt, dass er mit wenig Schlaf auskam, was er ausgiebig nutzte, um die Nacht zum Tag zu machen.
Bert sah den Wagen der Kollegen von der Schutzpolizei, der direkt vor dem Haus parkte, in dem man die Leiche gefunden hatte. Gleich dahinter standen die Fahrzeuge von Rettungsdienst und Notarzt.
Selbst ein paar Schaulustige hatten sich schon versammelt. Ein Kollege von der Schutzpolizei sorgte dafür, dass sie nicht im Weg standen und vor allem nicht auf die Idee kamen, das Haus zu betreten.
Ein Mehrfamilienhaus aus der Nachkriegszeit, irgendwann komplett saniert, doch längst mit neuen Wunden bedeckt, die selbst im Licht der Straßenbeleuchtung sichtbar waren.
» Oben«, erklärte der Kollege und trat zur Seite, um Bert einzulassen.
Bert registrierte die schadhaften Treppenstufen, die aus dunklem Stein waren, altersblind und stumpf von mangelnder Pflege. Er nahm den Geruch wahr, den der Tag in diesem Treppenhaus zurückgelassen hatte, eine Ansammlung unterschiedlichster Düfte, die kaum mehr voneinander zu unterscheiden waren. Spürte die Feuchtigkeit und die Kälte und jedes einzelne der vielen Jahre, die das Gebäude auf dem Buckel hatte.
Die Leiche lag auf dem Speicher, nicht weit von der Tür entfernt. Der Notarzt kniete neben dem Toten. Er hatte den Reißverschluss des blutverschmierten Pullis geöffnet, das durchnässte Shirt darunter aufgeschnitten und beides zur Seite geklappt.
Weiß schimmerte die entblößte Haut im Licht einer Stablampe, die bei der trüben Beleuchtung des Speichers dringend nötig war.
Als Bert den großen Raum betrat, der voller Schatten war, kam Rick ihm entgegen.
» Das Opfer heißt Bodo Breitner«, setzte er ihn mit gedämpfter Stimme ins Bild. » Er ist dreiundzwanzig Jahre alt und wohnt hier im Haus, die Wohnung oben rechts. Der Notarzt ist Dr. Hartmut Dreisam. Gut, dass du da bist.«
Rick Holterbach war das Beste, was Bert nach seinem Neustart in Köln passieren konnte. Sie arbeiteten gut zusammen, was vielleicht auch daran lag, dass Rick ein paar Jahre jünger war als Bert und die Dinge von einer anderen Warte aus betrachtete.
Bert sah ihm an, wie unwohl er sich fühlte. An den Anblick gewaltsam umgekommener Menschen gewöhnte sich mancher in einem ganzen Leben nicht. Er nickte Rick zu und trat näher an den Toten heran.
Der Notarzt schaute kurz auf und schenkte ihm ein flüchtiges Lächeln zur Begrüßung, das Bert ebenso flüchtig beantwortete. Er mochte Ärzte, die sich nicht in den Vordergrund drängten und einen Verstorbenen mit Achtung und Behutsamkeit behandelten.
Der Tote lag auf dem Rücken, die Arme leicht vom Körper gestreckt, das rechte Bein angewinkelt, beinah entspannt. Als hätte er einen leichten Tod gehabt, dachte Bert. Doch ein Blick auf das erstarrte Gesicht ließ ihn daran zweifeln.
Was wussten die Lebenden schon vom Sterben?
Unter dem Kopf und dem Oberkörper
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