Der Bilderwächter (German Edition)
uns in diesem Moment beide ans Ende der Welt gewünscht.«
» Was hast du empfunden?«, fragte ich.
» Was hast du gesagt?«, fragte Mike.
» Ich hab ihr gesagt, dass ich ihr nicht wehtun wollte … und sie um Verzeihung gebeten.«
» Und sie?«, fragten Mike und ich gleichzeitig.
» War total überrascht und hat Claudio im breitesten Italienisch beschimpft, dass es eine Freude war.«
» Wieso?«
» Weil sie überhaupt nicht seine Verlobte ist – sondern seine Cousine.«
Totenstille.
» Dann hat Claudio …«
» … sie tatsächlich nur benutzt, um mich schön auf Abstand zu halten.«
Ich hatte oft an Paulinas Existenz gezweifelt, aber darauf war ich nicht gefasst gewesen. Aufmerksam forschte ich in Merles Gesicht.
» Mach dir keine Sorgen«, sagte sie, trank von ihrem Giftcocktail und verzog den Mund. » Ich werde ihm das schon heimzahlen. Davon kann er noch unsern Enkeln erzählen.«
» Euern Enkeln? Du willst bei ihm bleiben?« Mike war fassungslos.
» Er war so zerknirscht, so beschämt und so … schuldbewusst …«
» … dass du ihm nicht länger böse sein konntest. Also wirklich, Merle!«
Sie lächelte ihn entwaffnend an. » Muss man Menschen nicht immer eine zweite Chance geben?«
» Auch die hundertste?«, fragte Mike.
Merles Lächeln wurde zu einem strahlenden Lachen.
» Ich habe jetzt einen Freund, der mir ganz allein gehört«, sagte sie mit einem Seufzen. » Stellt euch vor – ich muss ihn nicht mehr teilen.«
Da war ich mir gar nicht so sicher, doch das behielt ich für mich, denn es war schön, Merle so glücklich zu sehen.
Ilka lief durch die weihnachtlich geschmückte Altstadt und ließ die Sitzung noch einmal an sich vorüberziehen. Sie hatte Josefine so gut wie möglich erklärt, was zu ihrem Zusammenbruch geführt hatte. Doch die Worte waren nur ein Tropfen auf den heißen Stein gewesen.
Die Therapeutin hatte mit einer Intensität zugehört, die sie wie ein Kraftfeld umgab. Keine Sekunde lang hatte Ilka Lara vermisst, sich höchstens ein bisschen nach der Vertrautheit mit ihr zurückgesehnt.
Vielleicht war es aber auch von Vorteil gewesen, dass sie gezwungen war, ihre Geschichte noch einmal von außen zu betrachten, um sie Josefine verständlich zu machen.
Mittendrin war sie in eine Erinnerung abgedriftet, die ihr den letzten Rest Selbstbeherrschung geraubt und die Tränen in die Augen getrieben hatte.
» Und Ihre Mutter?«, hatte Josefine gefragt, so sanft wie möglich, doch keine Frage nach der Mutter war behutsam genug.
Mama …
Es ist Sommer und ungewöhnlich heiß, selbst jetzt am Abend noch. Ilka hat ihrer Mutter geholfen, den Abendbrottisch in der großen, gemütlichen, angenehm kühlen Küche zu decken. Durch die weit geöffneten Flügel der Terrassentür hört man die Vögel im Garten singen.
Ilka fühlt sich so leicht, so … schwebend. Sie kann beim Essen die Füße kaum ruhig halten. Ihre Mutter lächelt sie zärtlich an. Als wüsste sie selbst, wie es sich anfühlt, wenn man glaubt, sich jeden Moment in einen Schmetterling zu verwandeln.
Inzwischen ist auch der Vater nach Hause gekommen und lässt sich erzählen, wie der Tag seiner Kinder gewesen ist.
» Ich habe gemalt«, sagt Ruben und hält Ilkas Blick mit seinem fest. » Wie im Rausch. Es war unbeschreiblich.«
Ilka spürt die Hitze in den Wangen, und plötzlich hat sich die wunderbare Leichtigkeit in Luft aufgelöst. Sie hat Ruben Modell gestanden, und er hat sie in Posen gemalt, für die sie sich schämt.
» Kunst ist nicht schmutzig«, hat er leise zu ihr gesagt, und sein warmer Atem ist zärtlich an ihrem Hals entlanggestrichen. » Kunst ist heilig. Auch Nacktheit ist heilig. Es sind die Menschen, die sie in den Dreck ziehen.«
Aber warum schämt sie sich dann so?
Und warum zeigt Ruben dem Vater immer nur die Bilder, auf denen Ilka angezogen ist?
Ruben lässt sie nicht aus den Augen, als er beim Essen über das Malen spricht und die neuen Bilder beschreibt und den Eltern dabei eine fette Lüge nach der andern auftischt. Sein Blick dringt ihr bis ins Hirn und nimmt ihr die Luft zum Atmen.
Er zeigt ihr mit einem Fingerschnipsen, wie groß seine Macht ist. Wie leicht er sie glücklich machen – oder zerstören kann.
» Ich bete dich an«, flüstert er, als die Eltern sich kurz über einen Bekannten unterhalten und abgelenkt sind. » Ich will dich. Jetzt.«
Ilka vergeht vor Angst, dass die Eltern ihn hören könnten.
Und will ihn auch.
Das ist das Schlimmste.
Schlimmer noch als die
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