Der Bilderwächter (German Edition)
Berührungen spüren und wusste doch, dass sie Mike galten.
» Hey! Was ist los mit dir?«
Susan mit ihrer dunklen Stimme, in der immer ein Hauch von Zärtlichkeit mitschwang. Sie wartete nur darauf, dass er reagierte. Ihre Blicke waren Versprechen, die er bloß anzunehmen brauchte.
» Entschuldige. Was hast du gesagt?«
Er sah die Enttäuschung in ihrem Gesicht, als er die Gelegenheit wieder verstreichen ließ. Spürte ihren Kummer. Und er hasste sich selbst dafür, dass er ihre Gefühle nicht erwidern konnte und stattdessen einem Trugbild nachjagte.
*
Die Zwillinge waren nicht da. Rhena übernachtete bei einer Freundin, Leo bei einem Freund. Ilka war sich sicher, dass Tante Marei sie aus dem Weg geschafft hatte, um ungestört reden zu können, denn Rhena war heimlich in Mike verliebt und klebte wie eine Klette an ihm, sooft sich die Gelegenheit bot.
Tante Marei hatte den Tisch im Wohnzimmer gedeckt, was nur bei besonderen Gelegenheiten geschah. Sie hatte auch das gute Geschirr genommen, das sein hübsch verziertes Leben normalerweise im Schrank fristete. Sogar ein Blumenstrauß und eine Kerze standen auf dem Tisch.
Ilka fühlte sich wie zu Besuch.
Und war sie das inzwischen nicht auch, eine Besucherin?
Sie hatte das fröhliche Chaos im Flur nicht vergessen und nicht die unaufgeräumte, urgemütliche Küche, in der sie viel lieber gesessen hätte. Andrerseits betrachtete sie das Haus und die Einrichtung nun tatsächlich mit anderen Augen. Sozusagen von außen.
Sie gehörte nicht mehr hierher.
Aber sie war willkommen, das spürte sie daran, wie herzlich Tante Marei und Onkel Knut sie bei der Begrüßung an sich drückten und gar nicht mehr loslassen wollten. Auch Mike wurde freundlich aufgenommen. Tante Marei hatte ein großes Herz, ebenso wie Onkel Knut, nur konnte der es besser verbergen.
Sie unterhielten sich über die Zwillinge und darüber, wie schwierig sie mit ihren dreizehn Jahren geworden waren. Über Ilkas Mutter und ihr immer tieferes Abgleiten in Regionen, in denen sie für niemanden mehr erreichbar war. Über Ilkas Studium und Mikes Werkstatt. Über Jette, Merle, Mina. Den Bauernhof. Die Katzen.
Dann entstand eine Stille, die nur vom emsigen Klappern des Bestecks auf den Tellern unterbrochen wurde.
» Wolltest du nicht etwas mit uns besprechen?«, beendete Onkel Knut schließlich das geschäftige Schweigen.
» Ja.« Ilka schluckte den letzten Bissen herunter und legte Messer und Gabel ab. » Es geht um … Ruben.«
Tante Marei hob den Kopf. Diese Wände hatten Rubens Namen in den vergangenen zwei Jahren so gut wie nie gehört. Es war gewesen, als hätten die dramatischen Ereignisse ihn aus dem Wortschatz der Familie ausradiert. Nur die Zwillinge hatten ihn noch manchmal erwähnt.
» Wir haben den Express gelesen«, sagte sie bedrückt.
Ilka fragte sich, wie oft sie diesen Satz wohl noch zu hören bekommen würde.
» Reporter haben hier angerufen«, ereiferte sich Onkel Knut. » Marei hat sie abgewimmelt. Irgendwann hat sie dann einfach den Stecker gezogen.«
» Deshalb habe ich die Kinder weggeschickt«, erklärte Tante Marei. » Ich will nicht, dass sie das Theater mitbekommen.«
Ilka erschrak. Sie hatte nicht bedacht, dass auch Tante Marei, Onkel Knut und die Zwillinge betroffen sein würden.
Und wenn die Presseleute herausfanden, wo ihre Mutter untergebracht war?
Unter dem Tisch tastete Mike nach ihrer Hand.
» Eigentlich wollte ich mit euch darüber nachdenken, was wir tun können, um diesen Wirbel zu verhindern«, sagte sie. » Doch dafür scheint es schon zu spät zu sein.«
» Die beruhigen sich auch wieder«, prophezeite Onkel Knut. » Es geht doch eigentlich um die Bilder. Wenn die erst einmal in Umlauf sind, ist der ganze Spuk bestimmt vorbei.«
Ilka fragte sich, ob er die Lage richtig einschätzte. Als Banker lebte er in einer Welt, in der es um Zahlen ging und um berechenbare Größen.
Aber auch um Lug und Trug, dachte sie. Sonst hätte es nie eine Finanzkrise gegeben.
» Was siehst du mich so an?«, fragte Onkel Knut lächelnd.
Ilka wurde rot. Ihr war nicht bewusst, dass sie ihn angestarrt hatte.
» Ich war in Gedanken.«
Innerhalb weniger Sekunden fasste sie einen Entschluss. Es gab zu Onkel Knut keine Alternative. Sie hatte Vertrauen zu ihm. Er war ein anständiger Mensch. Und bisher hatte er alle Probleme von ihr ferngehalten. Er verwaltete ihr Erbe und kümmerte sich um die finanziellen Angelegenheiten, die ihre Mutter betrafen. Wen sonst sollte sie um
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