Der Bilderwächter (German Edition)
zwei ging es dann weiter mit Artikeln und Kommentaren. Von einem großen Foto aus schaute Ruben mich an.
Der Hals wurde mir eng.
Es gelang mir nicht, die Schuld an seinem Tod abzulegen. Da half auch Tilo mit seiner Geduld und seinen klugen Worten nicht. Ab und zu passierte es noch, dass ich aus dem tiefsten Schlaf auffuhr und kurz danach in Merles Gesicht blickte, die ich mit meinem Schrei geweckt hatte.
» Ruhig«, sagte sie dann, setzte sich zu mir auf die Bettkante und nahm mich in die Arme. » Du hast nur geträumt.«
Nur geträumt. Geträumt. Nichts weiter.
Rubens Augen.
Sie ließen mich nicht los.
Sein Begreifen und das Entsetzen, das ihn packte, als er fiel …
Und jetzt sah er mich wieder an.
Von den Toten auferstanden.
Wie geschmacklos konnte man denn sein?
Ich war mit Luke verabredet. Wir wollten uns ein paar Minuten für einen Kaffee und einen kleinen Spaziergang stehlen. Der Prozess gegen Leo Machelett, den Mann, in dessen Familie er lange Zeit gelebt hatte und gegen den er nun als Kronzeuge aussagen würde, sollte bald beginnen, und er vergrub sich in seinen Büchern, um nicht durchzudrehen.
Bitte, versteh mich, Jette.
Ich verstand ihn ja, aber es war so schwer. Weshalb musste er ständig alles mit sich allein abmachen? Warum durfte ich ihm nicht helfen?
Du bist da. Das ist genug.
Aber für mich war das nicht genug. Ich brauchte ihn in meiner Nähe, und das jeden und jeden Tag.
Er kam und trug den Express unterm Arm. Gab mir einen langen Kuss und drückte mir wortlos die Zeitung in die Hand.
» Hab ich schon gelesen«, sagte ich.
» Und wie geht es dir damit?«
» Ich frage mich, aus welchem Grund sie das alles wieder ans Licht zerren müssen, nachdem doch endlich Gras über die Geschichte gewachsen war. Wieso können sie die Dämonen nicht ruhen lassen?«
Gehet hin und ruhet in Frieden. Amen.
Luke legte mir den Arm um die Schultern, und es war schön, ihn an meiner Seite zu spüren. Mir war bewusst, welches Risiko er mit der Entscheidung auf sich genommen hatte, das Zeugenschutzprogramm zu verlassen. Seine raschen Seitenblicke, seine dauernde Anspannung und die Angewohnheit, immer und überall auf Rückendeckung zu achten, erinnerten mich unaufhörlich daran.
Wäre unser Bauernhof nicht der ideale Ort für ihn, um sich zu verstecken?
Dumme Frage. Ich wusste, dass es keinen sicheren Ort gab, wenn man sich mit so mächtigen Leuten wie Leo Machelett anlegte. Aber die Polizei hatte gründlich in der Organisation aufgeräumt. Diejenigen, die noch nicht gefasst waren, hatten jegliche Führung verloren und waren nicht in der Lage, komplexe Aktionen zu planen.
» Kann ich irgendwas für dich tun?«, fragte Luke.
» Du könntest dich endlich auf unser Angebot einlassen, dir ein Zimmer bei uns im Stall auszubauen.«
» Jette …«
» Vergiss es. War ein Scherz.«
Das war es nicht, und er wusste es. Dennoch ging er darüber hinweg, und ich beschloss, ihm Schonzeit bis zum Ende des Prozesses zu gewähren. Falls er nicht zu lange dauerte.
Dann würde ich ihm die Pistole auf die Brust setzen.
Mir fiel auf, dass ich allmählich in Kategorien dachte, die gut zur Mafia passten, und das behagte mir nicht.
» Doch«, sagte ich, als wir in einem kleinen, ungemütlichen, aber warmen Café saßen. » Du kannst etwas für mich tun.«
Erwartungsvoll sah er mich an.
» Du studierst doch Jura.«
» Das hast du dir gut gemerkt.«
Ich liebte es an ihm, dass er mich in fast jeder Situation zum Lachen bringen konnte. Außer ihm gelang das sonst nur Merle. Und manchmal meiner Großmutter. Ich nahm mir vor, sie bald wieder einmal zu besuchen.
» Darf Rubens Nachlassverwalter Ilka mit so was«, ich deutete auf die Zeitung, » zwingen, die Bilder an die Öffentlichkeit zu bringen? Darf er den Zeitpunkt ohne ihre Zustimmung wählen? Und die Mittel?«
» Das hängt von den Verfügungen ab, die ihr Bruder getroffen hat.«
» Und wenn …«
» Für solche Fragen ist es zu spät, Jette. Die Nachricht ist draußen. Ilka wird nichts mehr daran ändern können.«
» Kann sie Thorsten Uhland denn wenigstens verklagen, wenn er eigenmächtig vorgegangen ist?«
» Auch das hängt von Ruben Helmbachs Verfügungen ab. Wahrscheinlich ja. Damit wird sie die Sensationsgier der Leute jedoch nur noch verstärken. Es wäre klüger, wenn sie zu retten versuchte, was noch zu retten ist.«
» Aber wie?«
» Indem sie zunächst mal akzeptiert, dass sie Teil des Spiels geworden ist und dann versucht, es zu
Weitere Kostenlose Bücher