Der Biss der Schlange: Thriller (German Edition)
sie dann wochenlang vergessen hatte. Ein anderes Mal war er nach Hause gerannt, nachdem er Zeuge eines Raubüberfalls geworden war – nicht etwa, um die Polizei zu rufen, sondern um seine Kamera zu holen. Er war wie verzaubert gewesen von den klebrigen Blutstropfen des Opfers, die er auf den Asphalt hatte spritzen sehen. Damals war ihm durch den Kopf gegangen, dass sie wie Doppelsterne aussahen, verbunden durch eine Nabelschnur aus Solarfeuer.
Er war, das räumte er bereitwillig ein, ein wenig verquer.
Dennoch überraschte es ihn in der Regel, wenn die Menschen Anstoß an seinen Schrullen nahmen, so weit außerhalb seines Vorstellungsvermögens lagen die vermeintlich »angemessenen« Reaktionen der anderen Menschen. Trotzdem brachte sogar er die nötige Rationalität auf, um zu verstehen, dass es wohl nicht normal war, sich von der inhärenten Schönheit seines eigenen, unmittelbar bevorstehenden Todes fesseln zu lassen.
Dessen ungeachtet …
»Du bist perfekt«, flüsterte er.
Der Mörder legte fragend das Gesicht schief, das nur aus saphirblauen Zügen und goldenen Windungen bestand. Ein fauchender Mund prangte glänzend um eine blutrote Zunge. Das Messer rührte sich nicht. Der Arm blieb ausgestreckt. Die Augen hinter der Maske blinzelten – zu langsam – und vermittelten trotz des geballten Hasses der äußeren Fassade ein so grundlegendes Desinteresse, dass sie Walter weit mehr beunruhigten als die Klinge selbst. »Im Augenblick«, hauchte er, als wolle er die Leidenschaft des Mörders schüren, »sind wir beide wunderschön.«
Die Augen starrten ihn nur weiter an. Leer, unverbindlich. Stumpf.
In der Düsternis seiner Werkstatt, umgeben von Werken, derer er längst überdrüssig geworden war, setzte Walter eine finstere Miene auf und sorgte sich über die Apathie des Killers.
Natürlich hatte er mit alldem – oder zumindest etwas Ähnlichem – schon lange gerechnet. Oh, er hatte den Kontakt mit den anderen Wahnsinnigen jener kleinen Gruppe vor Jahren verloren. Teilweise, weil auch er die Schuldgefühle teilte, die mit dem einhergingen, was sie getan hatten; vorwiegend jedoch, weil ihn die Überzeugungen, für die er einst so vehement eingetreten war, plötzlich gelangweilt hatten. Sie hatten das Flair der Originalität eingebüßt, und er hatte sich in Windeseile neuen Leidenschaften, neuen Reizen zugewandt. Und doch blieb ihm die Enttäuschung über ihr Versagen – ein würdiger Expressionismus, der fürchterlich schiefgegangen war –, und auf abstrakte Weise hatte er wohl immer damit gerechnet, dass er irgendwann davon eingeholt werden würde. Während einer kurzen Phase der Besessenheit vom Artus-Mythos hatte er seinen Namen geändert, und als der »urbane Künstler« Merlin hatte er seinem neueren Schaffen nach und nach gestattet, den schuldbehafteten Überschwang seiner Jugend zu überschatten. Aurale Stadtlandschaften, vergängliche Architektur; Akte von ästhetischem Terrorismus.
Ruhm und Beifall.
Aber er hatte die Gesichter trotzdem erkannt. Inmitten des Hintergrundrauschens der Lokalnachrichten hatte er das Muster entschlüsselt – obwohl er ihre Namen nie erfahren hatte.
Die Gärtnerin. Der Liebesdiener. Die Geschäftsfrau. Und der Arzt.
Der Arzt, dessen Todesszenerie man erst an diesem Morgen live beschrieben hatte – gespreizt, verheert, wunderschön –, wobei man mit vorsichtiger Formulierung ein langsames, kunstvoll gestaltetes Martyrium angedeutet hatte.
»Abscheulich«, hatte es geheißen. »Folter«, hatte man es genannt.
Idioten.
Walter hatte gespürt, dass demnächst er an der Reihe sein würde. Anfangs hatte er unter einem beschämenden Anflug von Grauen gelitten. Er hatte mit dem Gedanken gespielt, sich an die Polizei zu wenden, sich der Gnade seiner potenziellen Zerstörer auszuliefern, dann jedoch hatte ihn die Vorstellung, zurück in jene Vergangenheit zu reisen, erschaudern lassen. Er hatte sogar überlegt, ob er Verbindung mit den anderen aufnehmen sollte – mit der verständnisvollen Ajna und dem unergründlichen Sahasrara – um sie davor zu warnen, was ihnen bevorstand.
Kurz gesagt: Er hatte sich gefürchtet.
Bis heute. Bis zu diesem Nachmittag, als die Polizei ihre atemlose, modrige kleine Pressekonferenz abgehalten hatte – bei der es all ihren mürrisch vorgebrachten Untertreibungen nicht gelungen war, die Resonanz der Medien auf die Bezeichnung »Serienmörder« zu entschärfen. Erst da hatte Walter die Morde als das in seine Seele
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