Der bleiche König: Roman (German Edition)
übernächsten Woche nicht mehr sehen, keinen intensiven persönlichen Austausch mehr mit ihm haben, ja ihn vielleicht überhaupt nie wiedersehen würde – plötzlich dämmerte mir, dass ich weder wusste, wo er wohnte, noch, wie er überhaupt mit Nachnamen hieß, Herrgott noch mal. Schlagartig wurde mir das alles bewusst, und ich bin ausgeflippt, weil ich daran dachte, dass ich ja schon einen Vorgeschmack davon bekommen hatte, wie es war, nur ein paar Tage lang nicht mit ihm reden zu können oder nicht zu wissen, wo er abgeblieben war, und ich bin voll ausgeflippt und hab überlegt, wo ich was anspitzen und mich damit ritzen könnte, worauf ich eigentlich aber überhaupt keine Lust hatte, bloß um da länger in der Klapse bleiben zu können, wobei ich selbst wusste, dass das eine durchgeknallte Idee war.« Sie wirft Drinion einen kurzen Blick zu, um zu sehen, ob er auf diese Information reagiert. »Das war völlig behämmert, und ich glaube, im Grunde wusste ich auch, was los war, er wusste, wie wichtig er da schon für mich geworden war, hatte also ein zusätzliches Druckmittel oder Munition, um mir einzuschärfen, den Scheiß bleiben zu lassen – ich saß im Treppenhaus zum dritten Stock hoch, und er lag auf dem Rücken und mit hochgelegten Beinen unter mir am Fuß der Treppe, sodass ich ihm die ganze Zeit auf die Schuhsohlen sah, und das waren Kmart-Schuhe mit Plastiksohlen –, dass sich das ›Erwachsenwerden‹ auf jetzt bezog, genau diese Sekunde, sei nicht so kindisch, denn das bringt mich um. Er sagte, die Mädchen, die durchs Zeller geschleust würden, wären alle gleich, und keine von uns hätte einen blassen Schimmer, was Erwachsensein eigentlich bedeute. Was natürlich total herablassend war und normalerweise das Falscheste, was man einer Achtzehnjährigen sagen kann. Also haben wir uns deshalb ein bisschen gestritten. Er beharrte darauf, kindisch zu sein, wäre nicht dasselbe, wie Kind zu sein, denn wenn man sich ein richtiges Kind ansah, wie es spielte, eine Katze streichelte oder einer Geschichte lauschte, dann sah man, dass das so ziemlich das Gegenteil von dem war, was wir im Zeller veranstalteten.« Shane Drinion beugt sich ein wenig vor. Sein Gesäß befindet sich jetzt fast 4,45 Zentimeter über der Sitzfläche; die gummiartigen, am Rand verdunkelten Sohlen seiner Arbeitsschuhe (verdunkelt von denselben Prozessen, die auch den Abrieb von Radiergummis verdunkeln) baumeln leicht über dem Fliesenboden. Hinge sein Sakko nicht über der Rückenlehne, könnten Beth Rath und die anderen Licht durch die breite Lücke zwischen Sitzfläche und Hose fallen sehen. »Er erklärte mehr, als dass er diskutierte«, sagt Rand. »Er sagte, es gibt eine bestimmte Lebensphase, in der man quasi vom unbefangenen Glück und Zauber der Kindheit abgeschnitten wird – seiner Meinung nach wachsen nur ernsthaft gestörte oder autistische Kinder ohne dieses Kindheitsglück auf –, aber später im Leben und in der Pubertät kann man die Freiheit und Fülle der Kindheit hinter sich lassen und trotzdem völlig unreif bleiben. Unreif in dem Sinne, dass man einen Zauberer-Daddy oder Retter erwartet oder herbeiwünscht, der einen genau sieht und kennt und versteht und umsorgt wie die Eltern das Kind, und der rettet einen dann. Rettet einen vor sich selbst. Er gähnte auch viel und schlug die Sohlen aneinander, und ich sah, wie die Sohlen hin- und herflappten. Er sagte, auf diese Weise würde sich die Unreife bei Mädchen und jungen Frauen zeigen; bei Männern würde es etwas anders aussehen, wäre im Grunde aber genau das Gleiche; auch sie wollen vom Verlorenen abgelenkt und von jemandem stabilisiert und gerettet werden. Was ziemlich banal ist, wie etwas aus einem Psychologiehandbuch, und ich so: Und das soll mein Hauptproblem sein? Dafür hast du mich zappeln und warten lassen? Und er so: Nein, das ist das Hauptproblem aller Menschen und der Grund, warum Mädchen so besessen von Schönheit sind und ob sie jemanden anziehen und genug Liebe in ihm entfachen können, um sie zu retten. Mein Hauptproblem, sagte er, und das hängt mit dem Hauptproblem zusammen, von dem ich dir gerade erzählt habe, war die hübsche kleine Falle, die ich mir gebastelt habe, um zu garantieren, dass ich nie erwachsen werden muss, sondern für alle Zeit unreif bleiben und bis in alle Ewigkeit auf jemanden warten kann, der mich rettet, weil ich nie imstande sein werde, herauszufinden, dass mich niemand retten kann, weil ich es von vornherein unmöglich
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