Der bleiche König: Roman (German Edition)
mit dem Spruch DU GEHST MIR NICHT AUF DIE NERVEN, DU REIßT SIE MIR BÜSCHELWEISE AUS und flirtete mit den Arbeitern, die sie namentlich kannte, während Küchendampf durch die Durchreiche waberte, über die sie die Zettel von ihrem Block heftete, und das Mädchen benutzte ihre gemeinsame Zahnbürste in einer Toilette, deren Schloss keine Haspe hatte. An der Eingangstür hing ein Glöckchen, dessen Läuten Kunden ankündigte. Die Mutter wollte Kekse, Kartoffelpuffer und Maisbrei mit Sirup, sie bestellten, die Mutter suchte ein trockenes Streichholz, und bald hörte das Mädchen sie über eine Bemerkung der Männer am Tresen lachen. Draußen schüttete es wie aus Kübeln, die Autos schlichen vorbei, und ihr Laster mit dem Dachaufbau zeigte auf den Tisch, und das Standlicht war noch an, sah sie, und sie sah den Besitzer vor sich, der noch immer auf der Straße vor Kismet stand und die Hände wie Krallen hinter dem Laster herreckte, der außer Sicht verschwunden war, während die Mutter aufs Lenkrad schlug und sich die Haare aus den Augen blies. Das Mädchen ditschte Toast ins Eigelb. Der eine der zwei Männer, die hereinkamen und sich in die Nachbarnische setzten, hatte Schnurrbart und Augen von derselben Farbe unter einer roten Mütze, die der Regen schwarz gefärbt hatte. Die Kellnerin zückte Bleistiftstummel und Notizblock und sagte zu den beiden: »Warum setzt ihr euch denn in die dreckige Nische?«
»Damit ich dir näher bin, Schatz.«
»Da hättet ihr euch auch da drüben hinsetzen können, da wärt ihr noch näher gewesen.«
»Mist.«
§ 9
VORWORT DES AUTORS
Autor hier. Also der reale Autor, der echte Mensch, der den Bleistift führt, keine abstrakte narrative Instanz. Zugegeben, manchmal taucht in Der bleiche König eine solche Instanz auf, aber dabei handelt es sich fast immer um ein konventionelles Pro-forma-Konstrukt, eine juristische Person, die nur aus kommerziellen Gründen existiert, ungefähr so wie ein Unternehmen; sie hat keine direkte, nachweisbare Verbindung zu mir als natürlicher Person. Aber das hier bin jetzt ich als echter Mensch, David Wallace, vierzig Jahre alt, Sozialversicherungsnummer 975-04-2012
Anmerkung
, und ich wende mich an diesem fünften Frühlingstag des Jahres 2005 aus meinem gemäß Formular 8829 steuerabzugsfähigen Heimbüro am Indian Hill Blvd. 725, Claremont 91711, Kalifornien, an Sie, um Ihnen Folgendes mitzuteilen:
Dies alles ist wahr. Dieses Buch ist wirklich wahr.
Das muss ich natürlich erläutern. Erstens, blättern Sie bitte zurück und schlagen Sie den Haftungsausschluss des Buchs auf, der steht über dem Impressum auf der Rückseite des Titelblatts, vier Seiten nach dem vergleichsweise unglücklichen und irreführenden Cover. Der Haftungsausschluss ist der nicht eingerückte Textblock, der mit den Worten beginnt: »Die in diesem Buch beschriebenen Figuren und Ereignisse sind fiktiv.« Ich weiß, Otto Normalverbraucher liest solche Haftungsausschlüsse so gut wie nie, so wie wir auch keine Urheberrechtsansprüche, technischen Daten der Library of Congress oder die langweiligen klein gedruckten Standardklauseln in Kaufverträgen und Anzeigen lesen, die da, wie alle Welt weiß, nur aus juristischen Gründen stehen. Aber jetzt möchte ich, dass Sie diesen Haftungsausschluss lesen und sich klarmachen, dass der besagte Anfangssatz »Die in diesem Buch beschriebenen Figuren und Ereignisse ...« auch für dieses Vorwort des Autors gilt. Anders gesagt, dieses Vorwort wird vom Haftungsausschluss als ebenfalls fiktiv definiert, d. h., es genießt den vom Haftungsausschluss etablierten speziellen Rechtsschutz. Ich brauche diesen Rechtsschutz, um Sie darüber in Kenntnis setzen zu können, dass das Folgende
Anmerkung
in Wahrheit keineswegs Fiktion, sondern substanziell wahr und zutreffend ist. Dass Der bleiche König in Tat und Wahrheit mehr mit einer Autobiografie als mit einer ausgedachten Geschichte zu tun hat.
Das wirft auf den ersten Blick ein verdrießliches Paradox auf. Der Haftungsausschluss des Buchs definiert alles Folgende als Fiktion, also auch dieses Vorwort, aber jetzt behaupte ich in diesem Vorwort, in Wirklichkeit sei das ganze Ding ein Sachbuch; wenn Sie das eine glauben, können Sie das andere nicht glauben usw. usf. Bitte nehmen Sie zur Kenntnis, dass ich solche oberschlauen selbstreferenziellen Paradoxa ebenfalls verdrießlich finde – oder jedenfalls jetzt, wo ich über dreißig bin – und dass dieses Buch mitnichten ein pfiffiger, metafiktiver
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