Der bleiche König: Roman (German Edition)
inzwischen mach ich das auch. Ich hab mich dabei ertappt. Es ist nicht unangenehm, aber seltsam. Etwas verschwindet aus einem – man merkt, dass das Gesicht erschlafft, ohne Muskelanspannung oder Ausdruck. Meinen Kindern macht es Angst, ich weiß. Als ob das Gesicht, genau wie die Aufmerksamkeit, einem anderen gehören würde. Manchmal komm ich jetzt vor dem Spiegel im Bad zu mir und ertappe mich beim Starren, ohne Erkennen. Der Mann ist jetzt seit zwölf Jahren tot.
Das ist hier jetzt die neue Herausforderung. Außenstehende können nicht mit Gewissheit entscheiden, ob der Steuerprüfer seiner Arbeit nachgeht oder am Starren ist, wie sie das nannte, also die Steuererklärungsformulare anstarrt, sie aber gar nicht erfasst, ihnen gar keine Beachtung schenkt. Solange man jeden Tag die vorgegebene Anzahl an Steuererklärungen verarbeitet, lässt sich das nicht mit Sicherheit sagen. Nicht dass ich das so machen würde, mein Starren passiert eher nach der Arbeit hier oder vorher, wenn ich mich darauf vorbereite. Aber ich weiß, dass sie sich fragen: Wer ist ein guter Steuerprüfer, und wer hält sie zum Narren, verbringt den Tag mit Starren oder denkt an andere Dinge? Das kann passieren. Aber jetzt, in diesem Jahr, können sie es wissen, jetzt können sie sagen, wer seine Arbeit macht. Der Unterschied zeigt sich später. Jetzt protokollieren sie bei einem nämlich die vereinnahmten Steuererträge und nicht die Zahl der verarbeiteten Steuererklärungen. Das ist neu für uns. Jetzt ist es leichter, wir suchen etwas; was erhöht die VS , nicht nur, wie viele Steuererklärungen kann man verarbeiten. Das erhöht die Aufmerksamkeit.«
984057863
»Unser Haus lag vor der Stadt, ging von einer Asphaltstraße ab. Wir hatten einen großen Hund, den mein Vater an einer Kette im Vorgarten hielt. Einen großen deutschen Schäferhund. Ich hasste die Kette, aber wir hatten keinen Zaun, das Grundstück lag direkt an der Straße. Der Hund hasste die Kette. Aber er hatte seine Würde. Deswegen nutzte er die Reichweite der Kette nie ganz aus. Er ging nie auch nur so weit, dass sich die Kette straffte. Nicht mal wenn der Briefträger kam oder ein Vertreter. Aus Würde tat der Hund so, als beschränke er sich aus freien Stücken auf das Gebiet, das zufälligerweise in Kettenreichweite lag. Außerhalb dieses Gebiets interessierte ihn nichts. Dafür brachte er null Interesse auf. Also nahm er die Kette nie zur Kenntnis. Er hasste sie nicht. Die Kette. Er hatte sie einfach unwichtig gemacht. Vielleicht tat er auch gar nicht so – vielleicht hatte er wirklich entschieden, dass dieser kleine Kreis seine Welt war. Er hatte eine ganz eigene Macht. Sein ganzes Leben an dieser Kette. Ich hatte den blöden Hund echt lieb.«
§ 15
Eine obskure, aber wahre paranormale Bagatelle: Es gibt sogenannte Faktenseher. Werden in der Literatur manchmal auch als Datenmystiker und das Syndrom selbst als KFI (= konfuse Faktenintuition) bezeichnet. Die plötzlichen Eingebungs- oder Wahrnehmungsblitze dieser Menschen sind der dramatisch relevanten Voraussicht, die wir normalerweise ASW oder Präkognition nennen, strukturhomolog, meistens aber viel langweiliger und alltäglicher. Deswegen wird das Phänomen so wenig untersucht oder bekannt gemacht, und deswegen sprechen über KFI verfügende Personen davon fast einhellig als von einem Leiden oder einer Behinderung. Die wenigen vorliegenden seriösen Untersuchungen und Monografien strotzen jedoch nur so von Beispielen; der Überfluss sowie die Belanglosigkeit und die Unterbrechung der normalen Denk- und Aufmerksamkeitsabläufe machen denn auch das eigentliche Wesen der KFI aus. Der zweite Vorname des Sandkastenfreundes eines Fremden, an dem man auf dem Flur vorbeigeht. Die Tatsache, dass jemand, der im Kino in der Nähe sitzt, an einem warmen, regnerischen Oktobertag des Jahres 1971 auf dem Interstate 5 in der Nähe von McKittrick, Kalifornien, nur sechzehn Autos hinter einem stand. Sie kommen aus dem Nichts und sind wie alle psychischen Funktionsstörungen lästig und unbehaglich. Sie sind einfach ephemer, nutzlos, undramatisch, störend. Wie der Cointreau jemandem schmeckte, der am 2. Oktober 1874 mit einer leichten Grippe auf der Esplanade der Wiener Staatsoper stand. Wie viele Menschen, die 1606 die Hinrichtung von Guy Fawkes verfolgten, Richtung Südosten schauten. Die Zahl der Einzelbilder in À bout de souffle . Dass jemand namens Fangi oder Fangio 1959 den Grand Prix gewann. Der Prozentsatz ägyptischer
Weitere Kostenlose Bücher