Der blinde Passagier
Gepäckraum öffnen und Herr Rodrigo Sola aus seinem Koffer die Schimmelpfennigschen Ansichtskarten und Briefe herauskramen.
„Wenn dich jemand erkennt, fliege ich aus meiner Stellung“, jammerte der junge Herr Nagase. „Du solltest unbedingt im Wagen bleiben.“
„Das geht leider nicht“, bedauerte Peter Schimmelpfennig höflich. Er stand neben Rodrigo und paßte auf wie ein Schießhund. „Ich glaube, die Karten und Briefe aus Jamaica fehlen noch“, stellte er gerade fest. Sie fanden sich schließlich ganz auf dem Boden des Koffers unter einem zitronengelben Bademantel.
Herr Nagase hatte sich inzwischen seine schwarze Hornbrille von der Nase genommen. „Würdest du wenigstens diese Brille aufsetzen?“ bettelte er.
„Wenn es Sie beruhigt“, meinte Peter Schimmelpfennig und tat ihm den Gefallen. Dann spazierte er zusammen mit dem Ersten Sekretär des Warenhauses DAIMARU zum Portal. Rodrigo Sola räumte inzwischen wieder seinen Koffer ein. und der Hausdetektiv, Herr Watanabe, half ihm dabei.
In der Halle des Hauptpostamtes standen die Leute vor den Schaltern, und Herr Nagase stellte sich an das Ende einer Schlange, die nicht allzu lang war. Peter Schimmelpfennig holte inzwischen das kleine Paket aus seiner Segeltuchtasche und beschriftete es mit der Adresse des Hamburger Abendblattes und der Bemerkung: „Zu Händen von Herrn Dr. Liesegang.“
Als Herr Nagase und Peter Schimmelpfennig gerade an die Reihe kommen sollten, pfiff irgend jemand auf einer Trillerpfeife. Der junge Schalterbeamte ließ seine Glasscheibe herunter und stand auf. Gleichzeitig hatte man sämtliche Fenster aufgerissen, und alle Angestellten unterbrachen ihre Arbeit. Und dann verwandelte sich das Hauptpostamt von einer Sekunde zur anderen in eine regelrechte Turnhalle. Man hörte Kommandos, und die Postangestellten marschierten zwischen ihren Schreibtischen und Aktenschränken auf der Stelle. Anschließend kreisten sie die Arme, beugten ihre Oberkörper nach vorne oder boxten Löcher in die Luft.
Der junge Beamte hatte einen roten Kopf und war ein wenig außer Atem, als er sich nach zehn Minuten wieder hinter seinen Schalter setzte. „Alles per Luftpost?“ ließ er Herrn Nagase fragen.
„Dieses kleine Paket und die Briefe an das abendblatt zusätzlich per Eilboten“, antwortete Peter Schimmelpfennig und angelte die Fünfzig-Dollar-Note von Mister Goldwater aus seiner Hemdtasche.
„Ein Dollar sind etwa vierhundert Yen“, bemerkte Herr Nagase. „Leider sehe ich ohne meine Brille sehr schlecht. Du mußt also allein aufpassen und genau nachzählen.“
„Sie sollten möglichst viel Karotten essen“, meinte Peter Schimmelpfennig. „Das ist für die Augen fabelhaft, sagt meine Großmutter.“
„Karotten?“ fragte Herr Nagase ungläubig.
„Haben Sie schon irgendwann einen Hasen mit Brille gesehen?“ grinste Peter Schimmelpfennig.
Am Palace-Hotel hielt die schwarze Limousine vor einem Seiteneingang. Dort wartete bereits ein Japaner, der einen Frack trug wie ein Oberkellner.
„Mein Kollege Shutoku“, stellte Herr Watanabe vor. „Er ist Hoteldetektiv.“
Sie kamen durch enge Gänge mit Rohrleitungen an der Decke und an großen Heizkesseln vorbei zum Lastenaufzug. Im fünften Stockwerk führte Herr Shutoku seine Besucher durch die Etagenküche in den mit dicken Teppichen belegten Korridor.
Die beiden Zimmer hatten wieder einmal eine Verbindungstür und lagen den kaiserlichen Gärten genau gegenüber. Man konnte zwischen den Bäumen die Teiche sehen und die Dächer der Schlösser und Paläste.
Als das Gepäck gebracht wurde, wollte Herr Sola dem Hausdiener mit seiner roten Schürze ein Trinkgeld geben. Aber da lächelte der junge Japaner nur. Er verbeugte sich und ging rückwärts aus dem Zimmer.
„Man gibt in Japan keine Trinkgelder“, erklärte Herr Nagase. Anschließend fragte er: „Haben Sie noch irgendeinen Wunsch?“
„Wir sind wunschlos glücklich“, stellte Herr Sola fest.
„Jedenfalls bin ich immer für Sie erreichbar“, sagte Herr Nagase, nahm sich einen Stuhl und setzte sich draußen auf dem Korridor vor Peter Schimmelpfennigs Zimmertür. Die Herren
Watanabe und Shutoku empfahlen sich gleichfalls. Auch mit einer Verbeugung und im Rückwärtsgang.
Ein Flugzeug flog über die Stadt, und man hörte den Motorenlärm. Rodrigo ging in seinem Zimmer hin und her. Er blickte durch das Fenster zur Straße und zu den kaiserlichen Gärten. Dabei holte er sein Feuerzeug aus der Tasche und zündete sich eine
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