Der blinde Passagier
schnellste Zug der Welt“, bemerkte Herr Nagase und blickte stolz durch seine dicke Hornbrille.
„Wie viele Menschen leben eigentlich in Tokio?“ Peter Schimmelpfennig guckte auf die vollen Straßen hinunter, auf die Dächer und in die Kamine hinein.
„Im Augenblick dreizehn Millionen“, rief Direktor Suzuki. „Aber man rechnet damit, daß es im nächsten Jahr schon sechzehn Millionen sind. Deshalb müssen wir Japaner ja auch so klein bleiben.“ Die Herren in der Kabine lachten herzlich.
Der Hubschrauber überflog inzwischen das Stadtzentrum. Er kurvte dicht an einem Wolkenkratzer vorbei, hinter dessen Fenstern ganze Reihen von Buchhaltern an ihren Schreibtischen saßen. Ein Stockwerk tiefer ließen sich einige Japanerinnen gerade frisieren.
Als das Warenhaus näher kam, konnte man deutlich erkennen, daß schon eine große Menschenmenge vor dem Haupteingang stand und in den Himmel hinaufblickte.
Die japanischen Herren in der Hubschrauberkabine rieben sich buchstäblich die Hände und redeten durcheinander wie Theaterbesucher in der Pause. Und dann gab der Reklamechef mit seiner silbergrauen Weste dem Piloten ein Zeichen. Beinahe im gleichen Augenblick fielen Flugblätter in allen
Farben aus dem Hubschrauber, und zwei lange weiße Fahnen mit japanischen Schriftzeichen entfalteten sich.
Auf der einen Fahne stand: „Das Warenhaus DAIMARU“
und auf der anderen:“„.begrüßt den blinden Passagier.“
Der Pilot zog drei Kreise um die fünfundzwanzig Stockwerke herum, und man konnte sehen, wie die Leute auf der Straße applaudierten. Dann schwebte der Hubschrauber wie ein Blatt, das der Wind von einem Baum geweht hat, auf das Dach des Warenhauses, und es war kaum zu merken, als er aufsetzte. Da kamen auch schon die ersten Fotografen angerannt, und die ersten Fernsehkameras warteten. Peter Schimmelpfennig mußte bis an den Rand des Daches gehen und sich über das Geländer beugen. Die Menschen winkten von der Straße herauf, und Peter winkte zu ihnen hinunter. Er kam sich vor wie ein beliebter König an seinem hundertsten Geburtstag. Später ging es im Lift zum fünfzehnten Stockwerk.
Direktor Suzuki war glücklich und seine Herren natürlich auch. Sie strahlten wie Kugeln an einem Weihnachtsbaum.
„Wenn du Lust hast“, schlug der Direktor des Warenhauses vor, „kannst du noch einen ganzen Monat als unser Gast in Japan bleiben.“
„Das ist wirklich sehr freundlich“, sagte Peter Schimmelpfennig, „aber am zwölften fängt meine Schule wieder an, und außerdem geht mir die Zahnpasta aus. Von meinen Hemden und Strümpfen reden wir lieber gar nicht.“
„Wir schicken ein Telegramm, daß du am Blinddarm operiert werden mußt“, schlug Direktor Suzuki vor.
„Das geht leider nicht“, bedauerte Peter Schimmelpfennig. „Wie ich Oberstudiendirektor Freitag kenne, läßt er sich nämlich bestimmt die Narbe zeigen, wenn ich zurückkomme.“ Die japanischen Herren wieherten vor Vergnügen.
„Doch zur Sache“, sagte Direktor Suzuki nach einer Weile und wurde ernst. „Wenn wir jetzt aussteigen, erwarten dich wieder Fernsehen und Presse. Sei sehr freundlich, aber erzähle nichts. Wir vertrösten die Herrschaften auf den Abend. Und am Abend sind wir dann plötzlich verschwunden. Im Hotel ist ein Essen vorbereitet, und wir haben für die nächsten Tage zehn Polizisten gemietet. Sie stehen abends vor dem Speisesaal und Tag und Nacht vor deinem Zimmer und in der Hotelhalle. Sie lösen sich gegenseitig ab und sorgen dafür, daß niemand an dich herankommt.“ Der Chef des Warenhauses zog sein Jackett gerade und rückte seine Krawatte zurecht. Der Lift hatte nämlich das fünfzehnte Stockwerk erreicht. Der Boy wußte allerdings nicht recht, ob er die Tür schon aufmachen durfte oder nicht.
„Erst am dritten Tag geben wir dich für die Zeitungen frei, wenn ich so sagen darf. Bis dahin“ — Direktor Suzuki machte jetzt dem Liftboy ein Zeichen — „gehörst du exklusiv dem Warenhaus DAIMARU.“
Das Wort „exklusiv“ klingelte in Peter Schimmelpfennigs Ohren wie eine Alarmglocke.
Im fünfzehnten Stockwerk war die Spielwarenabteilung untergebracht. Die Menschen standen dichtgedrängt zwischen Regalen mit Puppen, Stofftieren und farbigen Gummibällen. Neben einer großen elektrischen Eisenbahn, die pausenlos um einen Fudschijama aus Gips und Pappe herumfuhr, stand auf einem kleinen Podium ein Tisch mit mehreren Stühlen. Dort warteten auch schon die Fernsehleute und Pressefotografen.
Als Peter
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