Der blinde Passagier
Brot. Auch der Teller mit dem Weihnachtsgebäck stand wieder auf dem Tisch.
Die Familie Schimmelpfennig fühlte sich pudelwohl.
„Meinetwegen kann das Mittagessen heute ausfallen“. japste die Großmutter schließlich. Sie hatte drei Schnitten mit Leberwurst verdrückt und aß gerade die zweite Marmeladenschnitte.
„Heute gibt es überhaupt kein Programm“, schlug Frau Schimmelpfennig vor, „wir tun, wozu wir lustig sind, und jeder Wunsch wird erfüllt.“
„Abgemacht!“ sagte die Großmutter lebhaft. „Dann besorg mir mal gleich einen Maserati. Ich hätte jetzt gerade Lust, schnell ein paarmal um den Nürburgring zu rutschen. Ist das möglich?“
„Der Nürburgring ist heute leider wegen Glatteis gesperrt“, bedauerte Peter, „aber vielleicht drehen wir nachher mal eine Runde im Stadtpark.’
„Einverstanden“, meinte die Großmutter, „ihr geht zu Fuß, und ich nehme das Fahrrad.“
Jetzt war auch Frau Schimmelpfennig mit ihrem Frühstück fertig. „Kinder, es wird spannend!“ Sie legte ihre Serviette zusammen. „Jetzt wird Kassensturz gemacht.“ Sie fing an.
Teller und Tassen, Leberwurst und Marmeladenglas auf die Seite zu schieben.
Die Großmutter flüchtete mit ihrer Kaffeetasse zum Sofa.
„Du holst dir Papier und was zum Schreiben, und ich hol’ meine Tasche.“ Frau Schimmelpfennig lief zur Tür. und Peter suchte sich, was er brauchte, aus dem Bücherschrank zusammen.
Die Großmutter hatte sich in ihrer Sofaecke zurechtgesetzt wie im Kino.
Frau Schimmelpfennig kramte schon im Zurückkommen in ihrer Segeltuchtasche, mit der sie gestern abend vom Flugplatz gekommen war. Als sie sich wieder an den Tisch setzte, hatte sie einen Briefumschlag in der Hand. Sie öffnete ihn. und es kamen verschiedene Tüten aus durchsichtigem Papier zum Vorschein, die beschriftet waren und Geld enthielten.
„Also aufgepaßt!“ kommandierte Frau Schimmelpfennig. Sie setzte sich ihre Brille auf und las vor. „Lohn — einhundertfünfundsechzig achtzig.“ Sie nahm das Geld aus der Tüte und zählte es. Peter notierte den Betrag.
„Überstunden einhundertzweiundzwanzig zehn“, zählte Frau Schimmelpfennig wieder, und Peter schrieb diesen Betrag unter den anderen. „Weihnachtsgeld zweihundert“, las Frau Schimmelpfennig weiter vor.
„Stimmt“, stellte die Großmutter fest. „Das sind zwei Hunderter, das seh’ ich von hier.“
„Macht zusammen vierhundertsiebenundachtzig neunzig“, gab Peter bekannt.
„Ich bin richtig aufgeregt.“ Frau Schimmelpfennig nahm einen Schluck aus ihrer Kaffeetasse. „Und jetzt schreibst du gesondert, ganz rechts, was wir in diesem Jahr noch an Ausgaben haben.“
Es handelte sich um die Miete und den Heizungszuschlag, um Licht und Gas, schließlich noch um einen Betrag, den man außerdem zum Leben brauchte.
„Das wären zweihundertachtundsechzig vierzig“, errechnete Peter.
„Sagen wir zweihundertachtzig“, rundete Frau Schimmelpfennig großzügig auf. „Wenn du die jetzt von den vierhundertsiebenundachtzig Mark Einnahmen abziehst, was bleibt?“
„Ein alter Mann ist kein D-Zug. Einen Moment.“ Peter fing wieder zu rechnen an. „Bleiben genau zweihundertsieben neunzig.“
„Zweihundertsieben neunzig“, wiederholte Frau Schimmelpfennig, und die Zahl zerging ihr auf der Zunge wie Schokoladeneis. „Und jetzt zeigen Sie mir das Konto, junger Mann!“
„Es geht hier zu wie bei den Rothschilds“, kicherte die Großmutter.
Das Schimmelpfennigsche „Konto“ war in Wirklichkeit ein unliniiertes Wachstuchheft DIN A 4. Es hatte seinen üblichen Platz in der linken Schublade der Kommode. In diesem Heft wurden jeweils unter dem betreffenden Datum alle Beträge notiert, die Frau Schimmelpfennig im Laufe der Zeit für den Laden in der Steinstraße und seinen augenblicklichen Besitzer Victor Kaminski zusammengespart hatte.
„Eintausendachthundertachtzig.“ Peter übergab jetzt seiner Mutter das aufgeschlagene Wachstuchheft.
„Sehr schön“, bedankte sich Frau Schimmelpfennig. „Und jetzt schreib bitte die heutigen zweihundertsieben neunzig dazu.“
„Sehr wohl, gnädige Frau“. Peter deutete eine Verbeugung an, nahm das Wachstuchheft wieder an sich und fing an zu schreiben.
Frau Schimmelpfennig zählte indessen von dem Geld, das vor ihr auf dem Kaffeetisch lag. genau zweihundertachtzig Mark ab und verpackte diesen Betrag wieder in eine Tüte und die Tüte wieder in ihre Segeltuchtasche. „Das ist für die Miete und so weiter.“ Jetzt legte
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