Der blinde Passagier
sie den Rest, der auf dem Tisch geblieben war, ebenfalls zusammen. „Und das kommt zum anderen in den Eisschrank.“
„Wieso, hast du Angst, daß die Scheine ranzig werden?“ kicherte die Großmutter wieder einmal.
„Du weißt genau, daß ich von Banken und Sparkassen nichts halte. Ich hab’ nach dem Krieg einmal unser ganzes Geld auf einer Bank verloren, das genügt. Ich bin ein gebranntes Eichhörnchen.“ Frau Schimmelpfennig stand auf. „Das Geld bleibt in der Wohnung, und das Versteck wird immer wieder mal gewechselt. Zur Zeit ist es das Tiefkühlfach im Eisschrank. Kein Einbrecher der Welt kommt auf die Idee, in einem Eisschrank nach Moneten zu suchen.“
„Du bist ein kluges Kind“, stellte die Großmutter fest, „aber das wundert mich nicht, ich kenne ja deine Eltern.“
Inzwischen war Peter mit seiner Eintragung fertig: „Neuester Stand: Zweitausendundsiebenundachtzig neunzig.“
„Über zweitausend“, registrierte Frau Schimmelpfennig vergnügt. „Es ist beinahe zu schön, um wahr zu sein.“ Sic nahm ihr Geld und ging damit zur Küche.
„Das Geld wird sich im Eisschrank eine Grippe holen“, rief die Großmutter hinter ihr her. „Du solltest wenigstens Aspirintabletten daneben legen.“
Eine knappe Minute später explodierte die Bombe, auf der die Schimmelpfennigs so ahnungslos eine Nacht lang geschlafen und eine: 1 , halben Vormittag über gefrühstückt hatten. Es fing damit an. daß man aus der Küche hörte, wie etwas auf den Boden fiel und dann zersplitterte.
„Hast du was gesagt?“ fragte die Großmutter laut.
Und dann stand plötzlich Frau Schimmelpfennig in der geöffneten Zimmertür und war ganz bleich im Gesicht.
„Peter“, sagte sie, und ihre Stimme klang völlig fremd, „wir haben das Geld doch im Eisschrank versteckt?“
„Im Tiefkühlfach, ganz oben.“
„Das Tiefkühlfach ganz oben ist leer”, sagte Frau Schimmelpfennig. Sie wirkte so, als ob sie mit ihren Gedanken ganz weit weg wäre. In der Hand hatte sie immer noch das Geld vom Kaffeetisch, das sie eigentlich zum anderen dazulegen wollte.
Eine Weile war es im Wohnzimmer der Schimmelpfennigs still wie in einem Warenhaus am Sonntag.
Aber dann, von einer Sekunde zur anderen, redeten und rannten sie nur so durcheinander.
Peter stellte den ganzen Eisschrank auf den Kopf, und Frau Schimmelpfennig durchstöberte alle Verstecke, die sie im Laufe der Zeit entdeckt und benutzt hatte: die Standuhr, die Schublade, im Schrank, die Hausapotheke im Bad. die Zwischenmatratze im Bett, „Brehms Tierleben“ im Bücherschrank. die Innentasche in einem eingemotteten Mantel.
Nach einer Stunde war die ganze Wohnung abgesucht. Es war so gut wie sicher, daß das Geld gestohlen worden war. Aber vorerst wollten die drei Schimmelpfennigs das einfach nicht wahrhaben.
Als ob sie jemand gerufen hätte, waren alle drei schließlich wieder im Wohnzimmer und saßen sich genauso gegenüber wie in dem Augenblick, als die Katastrophe angefangen hatte.
„Wir müssen ihn aufwecken“, sagte Frau Schimmelpfennig schließlich. Natürlich meinte sie den Untermieter Sang Ping.
„Es ist unanständig, so gesund zu schlafen“, sagte die Großmutter, „wenn nebenan der Teufel los ist.“
Frau Schimmelpfennig ging also über den Korridor zu Herrn Sang Pings Zimmer und klopfte.
„Herr Sang Ping“, rief sie, „wir müssen Sie leider stören.“
Aber Herr Sang Ping gab keine Antwort. Auch als Frau Schimmelpfennig noch ein zweites Mal klopfte und um einen Grad stärker, gab Herr Sang Ping keine Antwort.
Und das war ganz natürlich.
Herr Sang Ping war nämlich gar nicht in seinem Zimmer.
Und als Frau Schimmelpfennig dann einfach die Tür öffnete, sah es in dem Zimmer ganz so aus, als ob Herr Sang Ping auch gar nicht die Absicht hätte, in der nächsten Zeit wieder zurückzukommen. Das Zimmer machte vielmehr den Eindruck, als würde Herr Sang Ping überhaupt nie mehr zurückkehren.
„Polizei“, rief Frau Schimmelpfennig, „da hilft nur die Polizei.“
Es gab jetzt keinen Zweifel mehr: Der Untermieter Suwanna Sang Ping war getürmt. Seine Koffer fehlten, seine Anzüge fehlten, seine Wäsche fehlte. Schränke und Schubladen standen offen. Daß doch noch ein paar Kleidungsstücke herumlagen und so ziemlich alle Bücher und Hefte zurückgeblieben waren, das hatte wohl nichts zu bedeuten.
„Und keiner von euch hat irgend etwas gehört?“ fragte die Großmutter. „Daß ich nichts gehört habe, ist weiter kein Wunder.“
„Über
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