Der blinde Passagier
spürte man kühle, frische Luft.
„Vielen Dank“, sagte Frau Bergström, und Peter Schimmelpfennig wollte sich wieder setzen. Aber mitten in der Bewegung blieb er stehen, wie ein Film, wenn der Apparat aussetzt.
Herr Sang Ping faltete nämlich auf seinem Fensterplatz im vorderen Teil des Flugzeugs gerade seine Zeitung zusammen. Vermutlich war es auch ihm in der Kabine zu warm geworden. Er stand auf, um seinen dunkelblauen Mantel auszuziehen.
In diesem Augenblick wurde es im ganzen Flugzeug plötzlich so hell, als hätte jemand ein paar Kronleuchter eingeschaltet. In Wirklichkeit hatte die Maschine endlich die Wolkendecke durchstoßen. Ringsum glänzte der Himmel strahlend blau, und die Sonne schien und brannte wie im Hochsommer. Immerhin flog die Boeing jetzt in zehntausend Meter Höhe.
„Das ist wunderbar“, sagte Frau Bergström und packte das Parfümfläschchen in ihre Handtasche zurück.
Aber Peter Schimmelpfennig hörte nicht, was die Dame aus Kopenhagen sagte, und er registrierte auch gar nicht, daß plötzlich die Sonne schien. Er stand immer noch erstarrt und sah fassungslos zu Herrn Sang Ping hinüber, der inzwischen seinen Mantel zusammengelegt hatte, um ihn in dem Gepäcknetz über seinem Sitz unterzubringen. Und dabei hatte sich Herr Sang Ping umgedreht.
Zum ersten Mal sah Peter Schimmelpfennig Herrn Sang Ping jetzt von seiner Vorderseite. Und leider stellte sich dabei heraus, daß dieser Flugpassagier, der jetzt in dem taghellen Flugzeug sein Gesicht zeigte, mit Herrn Sang Ping überhaupt nichts zu tun hatte. Er war ihm nicht einmal ähnlich, das heißt, er hatte so ziemlich sein Alter, die Größe und die Figur von Herrn Sang Ping. Und er war auch Chinese oder irgendein anderer asiatischer Typ. Aber das war leider auch alles.
Peter Schimmelpfennig plumpste völlig vernichtet in seinen Sessel zurück wie ein Stein, der ins Wasser fällt. Er starrte zum Fenster hinaus und war ziemlich blaß um die Nase.
Die Wolkendecke lag jetzt wie ein Meer aus weißer Watte unter dem Flugzeug.
„Fliegen ist immer wieder wie ein Wunder“, flötete Frau Bergström ahnungslos.
„Ja“, zwang sich Peter Schimmelpfennig zu einer Antwort. „Es ist wirklich enorm.“ Und während er das so vor sich hin sagte, wurde es ihm immer klarer, in welcher Lage er sich befand. Und diese Lage war wirklich nicht beneidenswert.
Der Passagier da vorne, dem er wie blind in dieses Flugzeug hinterhergelaufen war, weil er geglaubt hatte, er sei Herr Sang Ping. hatte in Wirklichkeit mit dem bisherigen Schimmelpfennigschen Untermieter genausoviel zu tun wie zum Beispiel ein Eskimo mit einem Senegalneger.
Und der echte Herr Sang Ping spazierte in diesem Augenblick vermutlich in bester Laune in Frankfurt herum und konnte mit dem gestohlenen Geld gefahrlos anfangen, was ihm gerade in den Sinn kam.
An Onkel Emil, an Frau Schimmelpfennig oder die Großmutter durfte Peter gar nicht denken. Vermutlich vertelefonierten sie inzwischen mit Ferngesprächen das Gasgeld und die Wohnungsmiete der nächsten zwei Monate.
Und schließlich kam das dicke Ende: Er saß ohne Flugkarte als blinder Passagier in einem Flugzeug, von dem er gar nicht wußte, wohin es überhaupt flog.
Kein Wunder, daß Peter Schimmelpfennig bei diesen Gedanken im Augenblick für die Wolkenberge vor seinem Fenster wenig übrig hatte. Dabei türmten sich diese Wolken zu so märchenhaften Gebirgen und Tälern, daß man sich pausenlos wundern konnte. Gelegentlich flog die Maschine auch in solch einen bizarren Wolkenturm hinein. Dann verdunkelte sich die Kabine für eine Minute, und das Flugzeug zitterte bis in die Spitzen der Tragflächen.
„Noch vier oder fünf Stunden, und ich kann meinen Pelzmantel einmotten“, sagte Frau Bergström aus Kopenhagen in die Stille hinein. „Wenn wir landen, gibt’s bestimmt eine Hitze wie in den Sommerferien.“
Peter Schimmelpfennig hätte jetzt natürlich ums Leben gerne gefragt: „Und wo wird das sein, ich meine, Wo wird das Flugzeug nach rund fünf Stunden landen?“ Aber da wäre dann selbst Frau Bergström aus Kopenhagen hellhörig geworden. Denn im allgemeinen wissen Passagiere in einem Flugzeug ziemlich genau, wohin die Reise geht.
Peter Schimmelpfennig zog es also vor zu schweigen. Wenigstens wußte er jetzt, daß der Flug nicht nach Hammerfest ging und auch nicht zum Nordpol. Und das beruhigte ihn fürs erste. Er gehörte nämlich zu jener Sorte Menschen, die lieber schwitzen als in der Kälte bibbern.
Das zweite Ich
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