Der blinde Passagier
Flugplatzgebäude waren es jetzt vielleicht noch zweihundert Meter. Bestimmt stand Onkel Emil dort schon irgendwo in der Halle und wartete.
Draußen auf der Piste rollte gerade ein Clipper zum Start, als die Gruppe mit den etwa dreißig Passagieren vorbeikam. Für einen Augenblick übertönte der Lärm von vier Düsen alle anderen Flugplatzgeräusche. Peter Schimmelpfennig blieb stehen und drehte sich um. Er wollte eigentlich nur sehen, wie sich der Clipper in den Himmel hob. Aber dann sah er etwas ganz anderes.
Man sagt oft gedankenlos, daß jemand „aus den Wolken fällt“ oder „vom Blitz getroffen wird“, auch wenn das gar nicht stimmt.
Aber in diesem Falle schien es wirklich und wahrhaftig zu stimmen: Peter Schimmelpfennig stand da. als wäre er eben gerade aus den Wolken gefallen und gleichzeitig vom Blitz getroffen worden. Er stand wie erstarrt, und die Schneeflocken wirbelten um ihn herum
Und das hatte natürlich seinen Grund.
Mitten in der Gruppe der etwa dreißig Passagiere, die auf dem Weg zu ihrer Maschine waren, ging Suwanna Sang Fing. Er hatte seinen dunkelblauen Wintermantel an und trug in der rechten Hand seine Aktentasche.
Peter Schimmelpfennig stand jetzt ganz allein. Die Fluggäste, mit denen er gekommen war, entfernten sich immer mehr zum Flugplatzgebäude hin. und die Gruppe der Passagiere mit Herrn Sang Ping hatte jetzt beinahe schon die Gangway ihres Flugzeugs erreicht. Es war ein Boeing-Jet der Lufthansa.
Peter Schimmelpfennig bibberte von einer Sekunde zur anderen wie der Deckel auf einem Topf kurz vor dem Kochen. Seine Gedanken schlugen Purzelbäume.
Was konnte man da machen?
Wenn er jetzt zum Flugplatzgebäude rannte, um Onkel Emil zu alarmieren, kletterte Herr Sang Ping inzwischen in aller Ruhe dort drüben an Bord. Und er würde längst in der Luft sein, bis Peter mit seinem Onkel wieder zurückkäme.
Er mußte also hier an Ort und Stelle sofort um Hilfe brüllen oder sich einfach auf Suwanna stürzen und ihm vor allen Leuten ins Gesicht schreien: „Sie sind ein Dieb, mein Herr! Ich verhafte Sie.“
Aber bestimmt würde ihm kein Mensch glauben, und irgendein Uniformierte! von der Flugplatzleitung würde ihn vermutlich wie einen Geisteskranken abtransportieren.
Drüben hatten die etwa dreißig Passagiere die Gangway erreicht, und die ersten von ihnen verschwanden bereits im Inneren der Maschine. Peter Schimmelpfennig war nahe daran, loszuheulen. Er wußte ganz einfach nicht, was er tun sollte.
Und in diesem Augenblick bekam er plötzlich einen Stoß in die linke Kniekehle.
Diesen Stoß versetzte ihm ein dunkelbrauner Handkoffer aus Krokodilleder. Und dieser Handkoffer gehörte einer älteren Dame, die mitten im Winter zu ihrem Pelzmantel einen Hut mit bunten Federn trug.
„Wenn Sie noch länger in der Gegend herumstehen, versäumen Sie Ihr Flugzeug, junger Freund“, meinte die Dame und japste nach Luft, als ob sie gerade einen Zweitausendmeterlauf absolviert hätte. „Wir müssen uns beeilen, und vielleicht sind Sie so freundlich, mir dieses kleine Gepäckstück abzunehmen?“ Sie drückte Peter Schimmelpfennig, ohne eine Antwort abzuwarten, ihren eleganten Krokodillederkoffer in die Hand und hastete weiter... „Ich komme leider immer zu spät. Nur daß sich das bei der Straßenbahn leichter reparieren läßt als beim Flugzeug.“
Peter Schimmelpfennig wollte etwas sagen. Aber da ihm das Richtige im Augenblick nicht einfiel, lief er wie ein hypnotisiertes Kaninchen hinter dem Federhut und dem Pelzmantel her.
Bei den ersten zehn Schritten war noch eine Spur von Widerstand in ihm. Dann aber ging alles viel zu schnell. Es blieb überhaupt keine Zeit mehr dazu, sich Gedanken zu machen.
„Wir sind da“, verkündete die energische Dame, als sie zusammen mit Peter die Gangway erreicht hatte. „Sie können jetzt die Türen zumachen und losfliegen.“
„Wir sind gleich soweit, gnädige Frau“, lächelte ein etwas dicklicher Angestellter aus seiner Uniform heraus. Dabei bildete sein Atem bei der kalten Luft eine kleine weiße Wolke vor dem Mund, als ob er gerade einen Zug aus einer Zigarette genommen hätte.
„Ich heiße Bergström und komme aus Kopenhagen“, erklärte die Dame, als sie an Bord ihren Pelzmantel auszog. „Und wenn du nichts dagegen hast, sitzen wir nebeneinander.“ Sie hatte sich für zwei Plätze im Heck des Flugzeugs entschieden und überließ Peter den Platz am Fenster.
„Besten Dank“, sagte Peter. Und viel mehr hätte er im Augenblick
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