Der blinde Passagier
vor dem Flugzeugfenster
Vorübergehend wurde die Boeing in zwölftausend Meter Höhe zum fliegenden Restaurant. Die zwei Stewardessen zauberten kleine Tische vor die Passagiere und deckten sie mit Servietten. Besteck und Gläsern. Der blitzsaubere Steward verteilte große, bunte Menü-Karten.
„Canapé Horsd’oeuvre. Filet-Steak ‚Turbigo’. gefüllte Tomaten, Butterreis“, las Frau Bergström vor. „danach Käse. Pfirsich Melba mit Schlagsahne und dann Kaffee.“ Sie klappte die Karte wieder zu. „Bei tausend Kilometer in der Stunde sind wir etwa über Barcelona beim Pfirsich Melba, und den Kaffee trinken wir schon über Sevilla oder dem Mittelmeer.“
„Und dann weiter?“ wollte Peter Schimmelpfennig wissen. Er versteckte seine Neugierde hinter der aufgeschlagenen Speisekarte. Aber leider kam in diesem Augenblick eine der zwei Stewardessen und servierte bereits die Vorspeise.
„Darf ich Ihnen Bier oder Wein bringen!“
Die Dänin entschied sich für Rotwein, und Peter bestellte noch einen Orangensaft.
Im Cockpit saßen die Piloten, der Navigator und der Flugingenieur hinter- und nebeneinander. Kapitän Roland hatte schon seit einiger Zeit den Autopiloten eingeschaltet. Er hielt die Maschine in Richtung und Höhe. Im Augenblick lag das schwere Flugzeug wie ein Brett in der Luft. Die Triebwerke vibrierten ruhig und gleichmäßig. Der Himmel war rundherum blau und wolkenlos.
„Dann starte ich mal zu meiner Höflichkeitsrunde“, gab Kapitän Roland bekannt. Er nahm den Kopfhörer ab und kletterte hinter der Steuersäule aus seinem Sitz heraus. Als er aufrecht stand, mußte er den Kopf einziehen. Der Lufthansa-Kapitän war nämlich zwei Meter lang. Sein Rücken war breit wie ein Kleiderschrank. Er machte seinem Kopiloten noch ein Zeichen und verschwand in Richtung Passagierkabinen.
Dort wurde bereits das Filet-Steak „Turbigo“ serviert. Es lag braungebrannt zwischen Champignons und Spargelspitzen auf den Tellern und verbreitete einen leichten Geruch nach guter Küche.
Trotzdem sagte Peter Schimmelpfennig: „Nein, besten Dank“, als der blitzsaubere Steward bei ihm servieren wollte.
„Bist du plötzlich luftkrank, oder was ist passiert?“ fragte Frau Bergström.
„Angeblich soll mein Magen zu klein sein“, schwindelte Peter. „Ich esse nie sehr viel. Und im Augenblick könnte ich beim besten Willen keinen Bissen mehr hinunterkriegen. Auch wenn Sie mir dafür eine Eins in Englisch garantieren.“
„Aha“, bemerkte Frau Bergström. „In Englisch sind wir also schwach auf der Brust.“ Sie setzte sich genußvoll zurecht und griff nach ihrem Besteck. „Des Menschen Wille ist sein Himmelreich“, sagte sie noch, und dann beschäftigte sie sich eine ganze Weile ausschließlich mit dem Steak auf ihrem Teller, den Champignons und den Spargelspitzen.
„Guten Appetit“, murmelte Peter und sah geradeaus.
Natürlich war die Sache mit seinem zu kleinen Magen ein ausgesprochenes Märchen. In Wirklichkeit lief ihm das Wasser nur so im Munde zusammen, und er hätte zwei solcher Steaks verdrücken können, ohne mit der Wimper zu zucken.
Aber Peter Schimmelpfennig hatte sich vor genau zwei Minuten dazu entschlossen, an Bord des Flugzeugs nichts mehr zu essen und auch nichts mehr zu trinken.
Das war kein plötzlicher Hungerstreik, sondern das schlechte Gewissen, das sich bei ihm von einer Sekunde zur anderen gemeldet hatte. Es war einfach dagewesen, wie ein Gasmann, der an einem Tag, da man ihn gar nicht erwartet hat, plötzlich in der Tür steht und kassieren will.
Wenn Peter als blinder Passagier in dieser Maschine lediglich mitflog, schädigte er die Fluggesellschaft vermutlich um keinen Pfennig. Aber die Orangensäfte, die er schon getrunken hatte, die Vorspeise, die Steaks, die Spargelspitzen und der Pfirsich Melba — das alles war Eigentum der Fluggesellschaft. Im ersten Augenblick hatte er sich darüber keine Gedanken gemacht. Aber jetzt hatte irgendwo in seinem Hinterkopf eine Alarmanlage rot aufgeleuchtet und geklingelt.
Also schön, überlegte Peter, ich fliege hier ohne Flugschein durch die Gegend. Aber das ist so gekommen, ohne daß ich es eigentlich wollte, und ich kann jetzt nicht einfach aussteigen wie aus einer Straßenbahn. Aber dabei soll es nach Möglichkeit auch bleiben. Herr Chang hat mir vor dem Abflug nach Frankfurt noch fünfzig Mark in die Tasche gesteckt, falls irgend etwas Unvorhergesehenes passieren sollte. Wenn ich mir also im äußersten Notfall ein Paar
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