Der blinde Passagier
Schimmelpfennigs Traum von dem eigenen Geschäft in der Steinstraße ein für allemal ausgeträumt ist.“
Peter starrte seinem zweiten Ich mitten ins Gesicht, und es sah eine ganze Weile so aus, als bedauerten sich beide aus tiefem Herzen.
„Die ganze Sache hängt so schief, daß es schiefer gar nicht mehr geht“, stöhnte Peter Schimmelpfennig. Dabei erinnerte er sich ganz überraschend an einen Abend vor langer Zeit: Seine Mutter war todmüde und abgespannt nach Hause gekommen. Sie hatte sich nur ihre Schuhe von den Füßen geschoben und sich dann gleich auf das Sofa gelegt. Und als Peter sie gefragt hatte, ob sie krank sei, hatte sie gesagt: „Laß mir nur fünf Minuten Ruhe, ich habe Sorgen.“ Daraufhin hatte sie von ihrem Sofa aus in die Lampe an der Decke gestarrt.
„Heute geht mir erst langsam auf, was sie damals gemeint hat“, überlegte Peter Schimmelpfennig und guckte wieder zu seinem zweiten Ich vor dem Fenster. „Weil wir zum ersten Mal in unserem Leben selber Sorgen haben. Aber einmal muß man ja wohl damit anfangen.“
Peter Schimmelpfennig lehnte sich wieder tiefer in seinen Sessel zurück. „Untersuchen wir unseren Fall doch einmal ganz genau! Drehen wir ihn von einer Seite auf die andere, so wie es Oberstudiendirektor Freitag gestern in seiner Ansprache mit Weihnachten gemacht hat. Was stellt sich dabei heraus? Wenn ich zum Beispiel jetzt aufstehe, ins Cockpit marschiere und zu dem Flugzeugkapitän sage: ‚Entschuldigen Sie, aber ich habe keinen Flugschein und gehöre eigentlich gar nicht hierher.’ Wäre das eine Lösung? Irgendwie habe ich das Gefühl, daß ich das tun sollte, und zwar sofort. Aber dann gibt es da noch ein andere Stimme, sozusagen die bekannte zweite Seele in meiner Brust.“
In diesem Augenblick passierten zwei Dinge gleichzeitig.
Einerseits: Frau Bergström drehte sich in ihrem Sessel auf die andere Seite und fing ganz leicht an zu schnarchen. Es war eigentlich nur ein hörbares Atmen.
Andererseits: Peter Schimmelpfennig hatte von einer Sekunde zur anderen einen regelrechten Wachtraum. Und zwar träumte er in zwölftausend Meter Höhe und mit offenen Augen vom Chefredakteur des abendblattes. Der dicke Dr. Liesegangsaß in seinem schneeweißen Ford, und seine Brillengläser waren leicht beschlagen, weil er gerade vom Tennisspielen kam und unter seinem Kamelhaarmantel noch dampfte.
Peter Schimmelpfennig starrte durch das Kunstglasfenster.
„Das ist eine verdammt gute Idee“, sagte draußen das zweite Ich. Peter konnte es nicht hören, aber die Worte waren deutlich an den Lippen abzulesen.
„Ja, das stimmt“, sagte Peter wieder zu sich selbst. Das zweite Ich vor dem Flugzeugfenster hatte nämlich nur noch einmal mit dem linken Auge geblinzelt und sich in Dunkelheit aufgelöst.
Aber dafür sah Peter Schimmelpfennig jetzt den Chefredakteur des ABENDBLATTES deutlich vor sich. Dr. Liesegang kam in seinem Ford immer näher. Er rauchte eine Zigarre und ließ den Rauch als kleine Ringe in die Luft steigen. Er sagte kein Wort und lächelte nur. Trotzdem war seine Stimme zu hören. „...und ich knoble mit meiner Redaktion Tag und Nacht“, sagte die Stimme. Sie hörte sich an wie aus einem uralten Grammophon, das nicht besonders gut funktioniert. „Es ist zum Auswachsen, im Augenblick ist eben Sauregurkenzeit.“ Die Stimme kam immer näher. „Und für einen interessanten Fisch — unsere Direktion würde sich das eine ganz nette Stange Geld kosten lassen.“
Peter Schimmelpfennig wäre jetzt am liebsten aufgestanden und zwischen den schlafenden Passagieren auf dem Mittelgang hin und her spaziert. Im Gehen konnte er nämlich besser nachdenken.
„Herr Dr. Liesegang vom abendblatt-, überlegte Peter und nagte dabei an seiner Unterlippe. „Das ist wirklich eine ausgezeichnete Idee und vielleicht die Rettung. Ich muß nur versuchen, so schnell wie möglich Verbindung mit ihm zu bekommen. Schön, ich habe ihm keinen Mord anzubieten und auch keinen Banküberfall. Aber daß ich Untertertianer als blinder Passagier irgendwohin in die Welt fliege und berichten kann, wie es dazu kam. das ist auch kein Pappenstiel. Bestimmt würde sich eine Menge Menschen dafür interessieren. Und wenn das abendblatt dafür etwas bezahlte, vielleicht zweihundert oder dreihundert Mark, dann ist das Geschäft in der Steinstraße für Frau Schimmelpfennig vielleicht doch noch nicht ganz verloren.“
„Bestimmt interessiert sich eine Menge Menschen dafür“, wiederholte Peter leise und
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