Der blinde Passagier
zwischen lauter Stoffballen saß, hatte sogar eine Trompete und blies immer wieder die ersten Töne der französischen Nationalhymne in die Luft.
Peter Schimmelpfennig fotografierte, was ihm vor die Linse kam. Im Augenblick hatte er es auf eine Negermutti abgesehen, die so dick war, daß sie nur noch wie eine Ente watscheln konnte. Sie hatte Unmengen von himmelblauem Stoff um sich herum drapiert und stand jetzt vor einem Stand, an dem Fische verkauft wurden. Aber in der gleichen Sekunde, als Peter seinen Apparat vors Auge nahm, flog auch schon ein mindestens drei Pfund schwerer Kabeljau in seine Richtung, und eine Frau, der wohl der Fischstand gehörte, schimpfte und schrie, als ob man sie aufgespießt hätte. Es war eine hagere, ältere Person, der ihre schwarzen Haare ins Gesicht hingen wie die Fransen eines Lampenschirms. Sie kam wütend näher, und es sah ganz so aus, als hätte sie es auf Peter Schimmelpfennigs Fotoapparat abgesehen.
„Ich schlage strategischen Rückzug vor“, meinte Frau Bergström und hob den Kabeljau auf, der Peter zum Glück nur an der Schulter getroffen hatte. „Doudou, vielleicht hat die Dame noch Verwendung für ihn.“
Doudou nahm den Fisch und spazierte zu der schimpfenden Frau. Es sah so aus, als riskiere er eine Ohrfeige, wenn nicht noch mehr. Aber plötzlich fing auch er genauso laut zu schreien an wie sie. Und im Handumdrehen war er genauso erfolgreich wie zuvor bei den Straßenhändlern und Schuhputzerjungen. Peter glaubte dieses Mal allerdings immer wieder ein Wort zu verstehen, das sich verdammt nach „Polizei“ anhörte.
Auf dem Rückweg entschuldigte sich Doudou. Es sei sein Fehler gewesen. Er hätte darauf aufmerksam machen müssen, daß sich Frauen nicht fotografieren lassen. „Männer haben viele Gesichter, glauben sie. Aber Frauen haben nur ein Gesicht. Und das könnten sie verlieren, wenn man Bilder davon macht.“
Der Bursche mit den abgewetzten Jeans und seinem Fernglas tauchte wieder auf. „Hallo, Chef“, flüsterte er heiser. Aber er wagte es nicht, allzu nahe heranzukommen.
Das Postamt hatte eine Schalterhalle wie jedes Postamt der Welt. Für Ferngespräche war eine ältere Dame zuständig. Sie war Französin und hatte eine Unmenge ganz kleiner Falten im Gesicht. Sie hatte sich deshalb stark gepudert. Eigentlich hätte sie besser in ein Geschäft für antikes Porzellan gepaßt.
„Das Gespräch ist auf eine zweite Nummer umgeleitet worden“, ließ die Französin übersetzen, „wir müssen jetzt warten, ob dieser Herr Liesegang erreicht wird und ob er das Gespräch annimmt.“
„Ich will ja nicht neugieriger sein, als es sich gehört“, meinte Frau Bergström. Sie hatte sich zwischen die zwei Jungen zum Warten auf eine Bank gesetzt. „Aber gehört dieses Telefonat wieder zu deinem Geheimnis, mit dem du durch die Gegend schwimmst?“ Gleich darauf sagte sie in einem ganz anderen Ton: „Übrigens ist es angenehm, daß die hier eine Klimaanlage haben.“
„Ja, sehr angenehm“, sagte Peter und blickte geradeaus in die Schalterhalle hinein.
Man sollte nie sagen: „Das ist
nicht möglich“
Dr. Liesegang hatte sich in seiner Badewanne eingerichtet, als wollte er in ihr den ganzen zweiten Feiertag zubringen. Aus einem Kofferradio kam leise Musik. Mozart oder so etwas Ähnliches.
Auf dem Rand der Wanne stand der Aschenbecher und daneben ein Glas Orangensaft. Der Wasserhahn war nur so weit aufgedreht, daß ständig ein wenig heißes Wasser nachlief, genau so viel, daß das Wasser in der Wanne, in dem ein paar Fichtennadeltabletten sprudelten, immer die gleiche Temperatur behielt und nicht überlief.
Der Chefredakteur der Abendzeitung rauchte eine pechschwarze Brasilzigarre und beschäftigte sich mit einem Berg Zeitungen, die in Griffweite auf einem Stuhl gestapelt waren. Wer selbst eine Zeitung macht, muß auch wissen, was die Konkurrenz schreibt.
Dr. Liesegang fühlte sich pudelwohl. Die Brasil verbreitete einen angenehmen Zigarrengeruch, und aus dem Badewasser duftete es nach Schwarzwald und Fichtelgebirge. Der Spiegel über dem Waschbecken war genauso beschlagen wie das Fenster zum Garten. Und das erhöhte noch das Gefühl des gemütlichen Geborgenseins.
Manche Zeitung wurde nur flüchtig durchgeblättert. In Venedig war seit gestern der Markusplatz wieder einmal überschwemmt, und in Kanada hatte eine Polizistin Fünflinge zur Welt gebracht. Der Sportteil interessierte nicht. Er fiel ungelesen neben der Wanne auf die meergrüne
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