Der blinde Passagier
und schüttelte den Kopf.
„Am besten nehmen wir die Weltkarte auf den Seiten vier und fünf“, schlug Dr. Liesegang vor und blätterte in dem Schulatlas, den Frau Schimmelpfennig aus Peters Zimmer geholt hatte. „Also, hier sind wir im Augenblick, meine Damen, und von hier ging auch die Reise los.“
Frau Schimmelpfennig und die Großmutter guckten dem Chefredakteur über die Schultern.
„Und da liegt Frankfurt. Das war die erste Etappe.“ Dr. Liesegang zog mit der Spitze seines Drehbleistifts die Luftlinie zwischen Hamburg und Frankfurt. „Und dann kam der große Sprung.“ Die Spitze des Drehbleistifts überquerte die Schweiz, streifte Spanien ein bißchen, sprang über das Mittelmeer und landete schließlich in der Gegend von Rabat und Casablanca. „Womit wir in Afrika wären. Und Dakar liegt hier.“
„Und wo liegt dieses Rio?“ wollte die Großmutter wissen. Dr. Liesegang zog eine schnurgerade Linie von Dakar nach Brasilien. „Das hier ist Südamerika, und hier liegt Rio de Janeiro. Das ist eine Stadt, von der man nur träumen kann.“
„Da fliegt er ja die ganze Zeit nur über Wasser“, stellte Frau Schimmelpfennig fest.
„Über den Atlantischen Ozean“, bestätigte Dr. Liesegang. Frau Schimmelpfennig setzte sich wieder auf ihren Stuhl, von dem sie aufgesprungen war, um den Schulatlas zu holen. Die Großmutter trippelte zu ihrer Sofaecke zurück.
„Darf ich Ihnen noch etwas nachgießen?“ fragte Frau Schimmelpfennig. Sie hatte für Dr. Liesegang, der so überraschend in die Wohnung geschneit war, die Flasche mit dem Kirschlikör aus dem Buffet geholt.
„Danke, wirklich nicht mehr“, lehnte der Chefredakteur lächelnd ab. Er hatte das erste Glas nur aus Höflichkeit angenippt. Süße Liköre konnte er nicht ausstehen. „Ihr Herr Sohn ist ein kleiner Kolumbus“. versuchte er jetzt zu scherzen.
„Steigt einfach irgendeinem Rücken hinterdrein und landet in Afrika“, sagte Frau Schimmelpfennig. Dann hing sie ihren Gedanken nach. Erst nach einer Weile meinte sie noch: „Wenn ihm nur nichts passiert.“ Sie überlegte wieder. „Vor dem Fliegen habe ich keine Angst. Das ist heute sicherer als Autofahren. Aber wenn er dort mit dem Essen nicht aufpaßt. Da gibt es doch noch Malaria und Amöben und Fleckfieber und wer weiß noch was alles.“
Die Standuhr tickte, und von der Straße her waren die Stimmen von Kindern zu hören. Vermutlich lieferten sie sich gerade eine Schneeballschlacht.
„Aber wenigstens wissen wir jetzt einigermaßen, wo er ist“, stellte die Großmutter fest.
„Ich habe die ganze Nacht kein Auge zugemacht“, gab Frau Schimmelpfennig zu, „aber er kann ja nicht einfach so verlorengegangen sein, sagte ich mir immer wieder.“
„Vielleicht kann ich Sie morgen schon abholen lassen, damit Sie von meiner Redaktion aus mit ihm sprechen können“, sagte Dr. Liesegang.
„Das wäre ganz wunderbar“, antwortete Frau Schimmelpfennig und wischte sich über das linke Auge.
In diesem Augenblick läutete es an der Wohnungstür.
„Fröhliche Weihnachten, Herr Purzer“, sagte Dr. Liesegang ein bißchen anzüglich, und dann stellte er den jungen Mann vor.
Herr Purzer hatte eine große, ausgebeulte Ledertasche bei sich, trug ein Stativ unter dem Arm, und vor seiner Brust baumelten drei verschiedene Fotoapparate.
„Sehr angenehm, Purzer“, sagte er. Seine Haare waren auf der Seite und besonders im Nacken reichlich lang. „Ich gebe Ihnen allen besser nicht die Hand. Ich bin nämlich stark erkältet. Meine Nase läuft wie eine Wasserleitung.“ Da ersieh im gleichen Augenblick ein Papiertaschentuch vor die Nase drückte, weil er niesen mußte, zweifelten weder die Damen Schimmelpfennig noch Dr. Liesegang daran, daß er die Wahrheit gesagt hatte.
„Versuchen Sie ja nicht, uns anzustecken“, lächelte der Chefredakteur. „Und fangen wir gleich an. Um so schneller ist es vorbei. Die beiden Damen wissen Bescheid und sind einverstanden.“
Frau Schimmelpfennig entschuldigte sich für einen Augenblick, um ein anderes Kleid anzuziehen. Die Großmutter spazierte vor den Spiegel und zupfte an ihrer Frisur herum.
Herr Purzer packte inzwischen sein Blitzlichtgerät aus. Dabei versuchte er, bei seinem Chef die Sache mit dem Telefonat wieder ein wenig auszubügeln. „Genau in dem Augenblick, als Sie angerufen haben, wollte ich aus dem Zimmer und meine Braut abholen. Abgesehen davon, daß ich erkältet bin, verlobe ich mich heute auch noch.“
„Das sind aber zwei Sachen,
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