Der blinde Passagier
gleiche haben sie bei Herrn Purzer probiert.“ Dr. Liesegang setzte sich Frau Schimmelpfennig gegenüber in einen Sessel. „Man wird bestimmt jetzt auch bei Ihnen aufkreuzen. Bitte, gnädige Frau, erzählen Sie kein Wort! Und keine Fotos aus der Hand geben!“
„Sie können sich auf mich verlassen“, sagte Frau Schimmelpfennig, „abgesehen davon habe ich ja gerade unterschrieben.“
Endlich meldete sich das Hotel Excelsior aus Rio. Aber ein Gast namens Schimmelpfennig war nicht bekannt.
„Peter Schimmelpfennig“, rief Dr. Liesegang und blies ungeduldig einen Strahl Zigarrenrauch über den Schreibtisch. „Er muß bei Ihnen sein, schauen Sie mal genau nach; er wartet auf diesen Anruf. Er ist vierzehn Jahre alt und hat blondes Haar.“
Es verging eine ganze Weile. Aber dann sagte die Stimme am anderen Ende, daß der Name Schimmelpfennig mit Sicherheit im Hause nicht bekannt sei.
Dr. Liesegang legte den Hörer wieder auf. Sein Gesichtsausdruck hinter der Zigarre verriet nicht, was er dachte. „Geben Sie mir die Agentur in Rio und diesen Herrn Tavares“, sagte er in den Sprechapparat zu Fräulein Bertelsmann im Vorzimmer.
Dieses zweite Gespräch kam ziemlich schnell. Aber Herr Tavares konnte nur berichten, daß Peter Schimmelpfennig gestern in das Hotel Excelsior gebracht worden sei. Ob irgend etwas nicht in Ordnung wäre?
„Nein, danke“, sagte Dr. Liesegang, „alles ist in bester Ordnung und freundlichen Gruß.“
„Ist etwas Besonderes?“ fragte Frau Schimmelpfennig. Da die Gespräche in englisch geführt worden waren, hatte sie leider kein Wort verstanden.
„Sicher hat er zur verabredeten Zeit gewartet“, meinte Dr. Liesegang und blickte Frau Schimmelpfennig an. „Aber dann kam und kam das Gespräch nicht, und jetzt liegt er bestimmt am Strand in der Sonne oder schwimmt im Atlantischen Ozean herum. Ich fürchte, heute kriegen wir ihn nicht mehr. Es tut mir leid. Aber ich gebe Ihnen sofort Bescheid, wenn ich neue Nachricht habe. Unser Wagen bringt Sie nach Hause.“
„Hoffentlich liegt er wirklich nur in der Sonne“, hatte Frau Schimmelpfennig noch gesagt, bevor sie sich verabschiedete.
Sie war noch nicht im Fahrstuhl, da meldete Dr. Liesegang schon wieder ein Gespräch nach Rio an. Diesmal verlangte er das dortige deutsche Konsulat.
Als Frau Schimmelpfennig nach Hause kam, sah es im Wohnzimmer so aus, als ob die Großmutter silberne Hochzeit gefeiert hätte oder ihren hundertsten Geburtstag.
Auf dem Tisch standen Gläser, und der Aschenbecher war voller Zigarettenkippen. Die Flasche mit dem Kirschlikör war leer, und die Stühle standen überall auf dem Teppich herum wie Betrunkene, die nicht mehr wissen, wo sie hingehören.
„Um Himmels willen, hat man dich überfallen?“ fragte Frau Schimmelpfennig. Und dann sah sie auch schon das Familienalbum auf dem Sofa liegen und daneben die Schublade aus Peters kleinem Schreibtisch.
„Nicht gerade überfallen“, kicherte die Großmutter vergnügt, „aber es war trotzdem aufregend. Seit dem frühen Nachmittag ging es hier zu wie in einem Taubenschlag. Alle wollten wissen, wie es unserem Peter geht und was für ein
Junge er eigentlich ist. Sie waren rührend und voller Anteilnahme.“
„Wer war rührend und voller Anteilnahme?“ fragte Frau Schimmelpfennig und zwang sich dazu, ruhig zu bleiben.
„Nun, die Herren von den verschiedenen Zeitungen. Sie würden noch viel hübschere Dinge schreiben als das Abendblatt-, berichtete die Großmutter. „Und dann mußte ich erzählen, und sie konnten gar nicht genug kriegen. Schließlich mußte ich ihnen noch unsere Fotos zeigen. Sie waren begeistert und fanden sie sehr gelungen.“
„Und sie haben sich natürlich auch einige Bilder ausgesucht und mitgenommen?“ fragte Frau Schimmelpfennig vorsichtig.
„Natürlich“, kicherte die Großmutter wieder, „und ich habe ihnen auch von unserem Kirschlikör angeboten, weil sie doch alle so freundlich waren.“ Sie setzte sich in einen Sessel und war ordentlich stolz auf sich. „Bin ich nun ein patentes Mädchen, ja oder nein?“
„Du bist das patenteste Mädchen der Welt“, sagte Frau Schimmelpfennig. Sie hängte ihren Mantel über den Garderobenhaken und fing an aufzuräumen. Zuerst machte sie die Fenster auf und leerte die Aschenbecher.
Das Hotel Excelsior wird belagert
Peter Schimmelpfennig schlief und schlief. Er war ganz zwischen den Hotelbadetüchern verschwunden, die ihm die beiden Millers zur Verfügung gestellt hatten. Nur seine
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