Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der blinde Passagier

Der blinde Passagier

Titel: Der blinde Passagier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alfred Weidenmann
Vom Netzwerk:
sich pfeift. Auch wenn ich noch nicht weiß, woher ich das Geld für meine nächste Miete nehme.
    Jetzt klingelte das Telefon schon wieder. Und dieses Mal war Senhor Tavares am Apparat. Er hörte sich genau eine halbe Minute lang an, was Herr Sola zu sagen hatte. Dann unterbrach er ihn und stellte fest: „Das ist ja alles Unsinn, und es interessiert mich auch nicht. Ich brauche Sie, und zwar sofort. Wenn Sie einen Verdienstausfall haben, bezahle ich Ihnen den Betrag.“
    „Um was geht es, wenn ich fragen darf?“
    „Das sage ich Ihnen lieber in meinem Büro. Wie lange wird es dauern, bis Sie hier sind?“
    „Eine Stunde etwa.“
    „Also in zwanzig Minuten“, sagte Senhor Tavares und legte wieder auf.
    Später, als Rodrigo Sola in seinem offenen Straßenkreuzer über die Praca de Bandeira rollte, schnitt ihm eine Hochzeitsgesellschaft mit sieben oder acht Autos für eine Weile den Weg ab. Man schwenkte Tücher in allen Farben aus den Wagenfenstern, und leere Konservenbüchsen, die an Schnüren von den Stoßstangen baumelten, hüpften hinterher und machten einen Heidenspektakel.
    Rodrigo Sola hatte neben manchen anderen Schwächen den Hang zum Aberglauben. Er hätte zu Hause nie einen Regenschirm aufgespannt, wäre nie unter Leitern durchgegangen und machte sofort kehrt, wenn ihm eine schwarze Katze über den Weg lief. Einer Hochzeitsgesellschaft zu begegnen, brachte dagegen Glück. Rodrigo fuhr also vergnügt weiter und suchte in seinem Autoradio wieder einmal nach Musik.
    Vor dem Eingang zum Bürohochhaus in der Avenida Presidente Vargas begegnete ihm eine Schulklasse mit kleinen Mädchen und zwei Nonnen. In seiner Liste von Dingen, die unbedingt Glück bringen mußten, rangierten Nonnen und Schulklassen noch vor Hochzeitsgesellschaften und Schafherden. Rodrigo war jetzt ganz sicher, daß der heutige Besuch bei der Agentur unter einem besonders günstigen Stern stand. Er nahm die Treppe im Laufschritt und pfiff vor sich hin, als er vom Lift ins zweiundzwanzigste Stockwerk befördert wurde.
    Senhor Tavares hatte in seinem Büro fast alle leitenden Angestellten seiner Agentur um sich versammelt. Er stand hinter seinem Schreibtisch und war wütend. Die Herren ließen die Köpfe hängen wie eine Schulklasse, die gerade erfährt, daß sie nachsitzen muß.
    „... und dafür habe ich überhaupt kein Verständnis“, donnerte der elegante Chef der Agentur. „Hier auf meinem Schreibtisch stapeln sich Anfragen aus der ganzen Welt. Fernschreiben. Telegramme, Telefonanrufe. Ich lasse mich schon verleugnen, weil ich keine Auskunft geben kann. Und das ist beschämend, im höchsten Grade beschämend, meine Herren. Das können wir uns als die größte Agentur Südamerikas einfach nicht leisten! Da passiert etwas direkt vor unserer Nase, die Zeitungen in der ganzen Welt schreiben darüber, und wir wissen nichts. Wir haben nicht einmal eine Ahnung!“ Senhor Tavares sah seine Herren der Reihe nach an, dann sagte er noch: „Sie haben jetzt bestimmt eine Menge zu tun. Ich will Sie nicht länger aufhalten.“ Er lächelte höhnisch, und die Versammlung löste sich auf, als hätte jemand eine Plastikbombe geworfen.
    „Jetzt zu Ihnen“, meinte Senhor Tavares und nahm ein Foto von seinem Schreibtisch. „Das ist ein Funkbild aus Hamburg, vor einer Stunde eingegangen. Sagt es Ihnen etwas?“
    Natürlich erkannte Rodrigo Sola auf dem Bild sofort den Jungen, den er gestern nachmittag ins Excelsior kutschiert hatte.
    „Peter Schimmelpfennig“ — der Name war nicht für brasilianische Zungen erfunden, und Senhor Tavares zerquetschte ihn deshalb wie eine Kartoffel. „Wenn das so weitergeht, ist dieser Kerl schon in der nächsten Woche so bekannt wie Frank Sinatra oder Abraham Lincoln.“ Anschließend erzählte er seinem Besucher Peter Schimmelpfennigs Geschichte, jedenfalls soweit er sie kannte. Und er wußte von ihr vorerst genau so viel, wie bisher im abendblatt gestanden hatte.
    Rodrigo Sola saß auf dem Fensterbrett, ließ seine Füße baumeln und hörte zu.
    „Natürlich kann ein Mensch in Rio verlorengehen wie eine Handtasche oder ein Fahrrad“, schloß Senhor Tavares seinen Bericht. „Aber ein Junge mit so hellblonden Haaren müßte doch wiederzufinden sein. Im Excelsior jedenfalls ist er nicht. Trotzdem wird das Hotel von uns überwacht, und ich fürchte, daß in der Zwischenzeit schon andere Zeitungsreporter Wind von der Sache haben.“ Herr Tavares tippte mit dem Fingernagel gegen die Scheibe des Aquariums. Die

Weitere Kostenlose Bücher