Der blinde Passagier
Fische, die bisher wie leblos im Wasser gestanden hatten, bewegten sich. „Sie kennen den Jungen und Sie sprechen Deutsch, Herr Sola“, sagte der elegante Chef der Agentur. Er griff jetzt nach der Fischfutterbüchse. die neben dem Bassin stand. „Sie müßten ihn eigentlich am ehesten aufspüren können. Die Agentur würde Sie dafür sehr gut honorieren.“ Herr Tavares stellte das Fischfutter wieder zur Seite und kam an seinen Schreibtisch zurück. „Aber eine noch viel höhere Bezahlung würde Ihnen sicher sein, wenn es Ihnen gelänge, das Vertrauen dieses Jungen zu gewinnen, falls Sie ihn finden.“
„Mit welchem Ziel?“ fragte Rodrigo. Er holte sich eine Zigarette aus der Tasche und strich mit dem Streichholz über seine Schuhsohle.
„Das werde ich Ihnen jetzt genau erklären“, sagte Senhor Tavares. Er legte die Fingerspitzen aufeinander und begann zu sprechen. Die langbeinige Sekretärin, die wie ein Filmstar aussah, kam einmal mit ein paar Fernschreiben und Telegrammen. Der Boß der Agentur überflog die Mitteilungen, ohne sich zu unterbrechen. Er sagte nur kurz: „Die herald tribune aus New York, der figaro aus Paris — alle fragen an: ,Wo ist der Junge aus Hamburg? Ist er in Rio?’ Ich gehe jede Wette ein, daß sich diese Geschichte noch zu einem Elefanten auswächst!“ Dann erklärte Senhor Tavares weiter, weshalb sich Rodrigo Sola um Peter Schimmelpfennigs Vertrauen bemühen solle. Am Ende fiel schließlich wieder ein Wort, das auch Dr. Liesegang vom abendblatt schon einmal gebraucht hatte.
„Wenn es Ihnen gelingt, ihn zu finden“, Senhor Tavares schob seinen Schreibtischsessel zurück und stand auf, „lassen Sie keinen Menschen an ihn heran. Das Geschäft ist nur zu machen, wenn wir ihn ganz allein haben, exklusiv! Im übrigen habe ich Ihnen bei der Kasse einen Vorschuß angewiesen. Sie können ihn abholen.“
Und Peter Schimmelpfennig schlief immer noch.
Ein paar Stockwerke tiefer hatten sich inzwischen zwei Burschen mit Fotoapparaten in der Hotelhalle breitgemacht. Sie hatten sich mit Zeitschriften eingedeckt, und Whiskygläser standen neben ihren Sesseln auf dem Boden. Sie rechneten mit einer längeren Wartezeit.
Andere Herren ohne Kamera und Blitzlicht spazierten hin und her und rauchten eine Menge Zigaretten. Gelegentlich sprachen sie mit dem Portier oder dem Empfangschef, und dann telefonierten sie immer wieder.
Schließlich tauchten noch zwei Männer in weißen Leinenanzügen und sehr breitrandigen Hüten auf. Dazu trugen sie braune Schuhe. Von dieser Sorte brauner Schuhe mußte die brasilianische Polizeidirektion irgendwann einmal zu einem besonders günstigen Preis einige tausend Paar eingekauft haben. Jedenfalls wußte jeder Brasilianer, daß Leute mit solchen Schuhen etwas mit der Polizei zu tun hatten. Die Diebe und Einbrecher in Rio blickten verdächtigen Männern also mehr auf die Füße als ins Gesicht.
Die beiden Kriminalbeamten in ihren weißen Leinenanzügen kamen von der Fremdenpolizei und zeigten dem Portier ein Foto. Dabei stellten sie Fragen. Aber die Auskunft war offenbar unbefriedigend. Deshalb wurde das Bild jetzt beim ganzen Personal herumgereicht. Die Herren, die immer nur Zigaretten rauchten und telefonierten, witterten Neuigkeiten. Aber die beiden Männer von der Polizei schwiegen sich aus.
Als der Hotelpage Sergio das Foto in die Hand bekam, beobachtete ihn glücklicherweise gerade niemand. Er riß nämlich verdächtig weit die Augen auf und wollte schon etwas sagen. Aber statt dessen gab er zwei Sekunden später das Foto mit einem Kopfschütteln weiter. Gleich darauf wanderte er möglichst unauffällig zur Portiersloge hinüber. Der Schlüssel von 1203 war nicht im Fach. Die Millers mußten also noch auf ihrem Zimmer sein.
Nur einen kurzen Augenblick zögerte der kaffeebraune Hotelpage, als er das Schild NICHT STÖREN an der Tür sah. Dann klopfte er. Und als niemand antwortete, trat er nach einer Weile einfach ein.
Schon fünf Minuten später lieferte er den Knaben Peter Schimmelpfennig in seiner nagelneuen Badehose bei den beiden Millers ab. Er hatte ihn im Strandlift aus dem Hotel geschmuggelt. Dieser besondere Lift fuhr direkt zum Kellergeschoß und konnte von den Hotelgästen benutzt werden, wenn sie zum Baden wollten.
Peter Schimmelpfennig war noch ganz verwirrt. Er saß unter dem Millerschen Sonnenschirm, fuhr sich mit beiden Händen durch sein ungekämmtes Haar und gähnte dabei. „Der muß Mattscheibe haben“, meinte er und schielte zu
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