Der blinde Passagier
einmal.
Peter Schimmelpfennig schloß die Tür hinter ihm ab, schaute eine Weile zum Fenster hinaus und hockte sich dann in seiner nagelneuen brasilianischen Badehose aufs Bett. Ein Glück, daß man in Rio nicht auffiel, wenn man nur halb oder kaum angezogen in der Straße herumspazierte. Hier konnte man in der Badehose zum Fleischer gehen oder aufs Postamt. Man hatte Peter Schimmelpfennig also gar nicht weiter beachtet, als er mit Sergio zusammen vom Strand hierher getürmt war.
Durch das schmale Fenster hörte man den Straßenverkehr, aber nur entfernt und so, als ob man ihn mit einem Tuch zugedeckt hätte. Eine Frau schimpfte auf brasilianisch mit ihrem schreienden Kind, und ganz in der Nähe spielte ein Radio einen Bossa Nova.
In der Halle des Hotels Excelsior saßen also bereits Reporter und Polizeibeamte in Zivil und reichten sein Foto herum wie einen Steckbrief.
Peter Schimmelpfennig sprang auf und ging hin und her. Die Steine unter den nackten Fußsohlen waren angenehm kühl. Im übrigen stand in Sergios Zimmer die Hitze wie in einem Backofen. Es lag ja gleich unter dem Dach, und auf dieses Dach brannte vom Morgen bis zum Abend die Sonne.
Vier Schritte hin, vier Schritte zurück. Es war wie in einer Gefängniszelle. Mit dem Unterschied allerdings: Er konnte die Tür aufschließen und hingehen, wohin er wollte. Aber das stimmte leider nur mit gewissen Einschränkungen. Es wäre zum Beispiel nicht ratsam, ins Hotel Excelsior zurückzugehen oder irgendwo gewisse Leute zu treffen. Auch war eine Badehose als einzige Bekleidung nur ausreichend, solange die Sonne schien. Abends trug man auch in Rio zumindest Hemd und Hose.
Peter Schimmelpfennig stand an dem schmalen Fenster und blickte über die Dächer und an den Kaminen vorbei zum Himmel.
Ich könnte natürlich jetzt einfach aufgeben, überlegte Peter Schimmelpfennig, zum Beispiel zum Konsulat gehen und sagen: „Da bin ich.“ Dr. Liesegang hatte so etwas Ähnliches ja am Telefon angedeutet. Peter wanderte wieder ins Zimmer zurück. Dabei fiel ihm jetzt erst ein, daß ja inzwischen der Chef des Abendblattes im Excelsior angerufen haben mußte. Bestimmt hatte man ihm dort gesagt, daß ein gewisser Peter Schimmelpfennig nicht bekannt sei. Und jetzt war man in Hamburg sicher in Sorge.
Peter Schimmelpfennig war wieder an dem schmalen Fenster mit dem kleinen Balkon angekommen. Nebenan spielte das Radio eine Sambamelodie nach der anderen.
„Nein, ich gebe nicht auf“, beschloß Peter Schimmelpfennig nach einer Weile, „wenigstens jetzt noch nicht.“ Er hatte die Hände auf dem Rücken und wippte immer wieder auf den Zehenspitzen. „Hat man schon einmal einen Kapellmeister gesehen, der mitten im Konzert einfach davonläuft?“
Es wurde ein langer Nachmittag und ein langer Abend. Die einzigen Abwechslungen brachten zwei Briefe, die er schrieb. An seine Mutter und an Dr. Liesegang. Und dann bekam Peter Schimmelpfennig allmählich Hunger. Und Hunger ist ein Gefühl, das wächst und sich wie eine japanische Wasserblume ausbreitet.
Jetzt war die Gefängniszelle ziemlich perfekt.
Als sich die Straßenbeleuchtung über der Avenida Atlantica einschaltete, war es genau zehn Minuten nach einundzwanzig Uhr. Der Hotelpage Sergio verabschiedete sich vom Chefportier bis zum nächsten Morgen und kletterte über die Treppe zum Keller, wo das Personal seine Umkleideräume hatte. Die Benutzung des Lifts war den Angestellten nach ihrer Dienstzeit verboten.
Aber der Hotelpage Sergio hielt sich heute nicht an diese Vorschrift. Kaum war er im Keller angekommen, drückte er auch schon den Knopf für den Fahrstuhl. Jimmy wartete im Zimmer bereits auf ihn. Er saß neben Peter Schimmelpfennigs gepackten Sachen wie auf einem Bahnsteig, wenn der Zug nicht kommt.
„Macht nur die allernotwendigsten Dummheiten“, mahnte der Professor noch, und dann fuhren die beiden im Lastenaufzug wieder bis in den Keller. Von dort führte ein langer Korridor in eine Seitenstraße, für das Personal und Lieferanten.
Sergio ging ein paar Schritte voraus, um festzustellen, ob die Luft rein war. Nachdem er sich umgesehen hatte, gab er ein Zeichen, und Jimmy kam hinterher. Die Straße war belebt, und die Geschäfte waren noch geöffnet. In Rio macht man seine Einkäufe entweder sehr früh, bevor es heiß wird, oder am Abend, wenn es sich wieder abkühlt.
Die beiden Jungen gingen schnell und sprachen kein Wort. Gelegentlich schauten sie hinter sich.
Als sie wieder einmal ihre Köpfe umdrehten,
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